Monday, December 27, 2010

Utilitarismus

Das der Natur gemäße Recht ist eine den Nutzen betreffende Übereinkunft, einander nicht zu schädigen noch voneinander Schaden zu leiden. Epikur

Wenn heute vom Utilitarismus gesprochen wird, wird er zumeist als monolithischer Block dargestellt, der nur vom Nützlichkeits- oder Lustprinzip geleitet ist. Das ist eine zu enge Sicht, die vor allem von den Gegnern dieser Moralphilosophie propagiert wird. Die Wirklichkeit ist viel komplexer. Erst einmal gibt es nicht „den“ Utilitarismus, denn jeder Vertreter entwickelte seine eigene Variante desselben. Zudem ist die vorrangige Rekurrierung auf John Stuart Mill als Musterbeispiel des Utilitarismus irreführend, weil er sich selbst nicht primär als Theoretiker des Utilitarismus sah, sondern als Vertreter des Freiheitsgedankens sowie als Ökonom und Logiker. Seine – nach eigenem Ermessen – unbedeutende Schrift zum Utilitarismus sollte eher eine wertschätzende Ergänzung zu Jeremy Bentham sein. Trotzdem war seine Schrift wahrscheinlich die einflussreichste in der Utilitarismusdebatte.
Die ersten Utilitaristen – die sich auch als solche verstanden, denn die Wurzeln des Utilitarismus sind sehr viel älter – gehörten sicher zu den modernsten und progressivsten Moralphilosophen ihrer Zeit. Sie kämpften gegen die bestehenden, unhinterfragten Moralvorstellungen ihrer Epoche an. So forderte Bentham die Straffreiheit für Homosexualität sowie Rechte für Tiere und Mill die rechtliche Gleichstellung und Befreiung von Frauen und Sklaven. Revolutionäre Forderungen, die uns heute nicht mehr abwegig und skandalträchtig anmuten, damals waren sie es aber. Nicht umsonst nannten sie sich „Radikale“. Selbst Benthams älterer Zeitgenosse Kant ging nicht so weit – im Gegenteil: seine Ethik rechtfertigte die Ungleichheit, Frauen und Sklaven waren nach Kant gar nicht zur Moral fähig.
Die eigentliche Neuerung war, dass Ethik nun diskutabel wurde, und nicht mehr gottgegeben war oder auf ersten Prinzipen gründete. Alle bisherigen Moralvorstellungen wurden in Frage gestellt. Und das ist meiner Meinung nach die Haupterrungenschaft des Utilitarismus: Ethik und Moral wird nun diskutiert, analysiert, begründet und kritisiert. Im kritischen Diskurs hat Mann und Frau am ehesten die Chance, auf eine geeignete und praktikable Lösungen zu kommen, nicht indem ethische Normen autoritativ gesetzt oder als gegeben hingenommen werden. Alle geltendenden Vorstellungen dürfen und müssen kritisiert werden.
Den Utilitaristen ging es prinzipiell nicht um die Lustoptimierung, sondern sie waren auf der Suche nach empirischen Kriterien zur Beurteilung von Moralvorstellungen und ethischen Forderungen. Daher führten sie das Konsequenzprinzip ein: nur die Folgen einer Handlung können zur Beurteilung ihres ethischen Wertes herangezogen werden, die „gesellschaftliche Nützlichkeit“ (utilitas) der Handlung oder Norm ist dafür ausschlaggebend. Nach welchen Kriterien dieser Nutzen zu bewerten ist, daran schieden sich allerdings die Geister. Für die einen war es allgemeiner Lustgewinn, für die anderen mehr Glück und Freude, für wieder andere die Verminderung oder Vermeidung von Schmerz und Leid (siehe John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 39). Auch die Wahrung der allgemeinen Sicherheit kann als ein zentraler Nutzen der Normen innerhalb einer Gesellschaft angesehen werden (siehe John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 161).
Bentham schrieb zum Thema Nutzen: Unter Nutzen wird jene Eigenschaft in einem Gegenstand verstanden, die Gewinn, Vorteil, Lust, Gutes oder Glück für das jeweils betrachtete Subjekt hervorbringt... (zitiert nach Mary Warnock: Utilitarismus. London 1962, 34). Mill ergänzte, dass das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist (John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 53). Es handelt sich also um ein altruistisches Ethikmodell.
Was der erwartete Nutzen aber keinesfalls sein darf, ist etwas Opportunes. Das schließt Mill explizit aus (siehe John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 67). Opportunität kann nicht Grundlage einer Moral sein. Daher kann es auch nicht sein, dass die Interessen der Mehrheit über die Interessen einer Minderheit gestellt werden.
Auch wenn immer wieder der Satz vom größtmöglichen Glück für den größtmöglichen Teil der Menschen als zentrales Motiv des Utilitarismus angegeben wird – was sicher so auch richtig ist – darf darüber nicht übersehen werden, dass es den Utilitaristen vor allem um die persönliche Freiheit und Autonomie des leidfähigen Individuums ging. Mill selbst meinte, es gehe darum, das allgemeine Glück zu (be)fördern, er spricht nicht von Glücksmaximierung. Von vielen Utilitaristen wird daher das Glück des einzelnen nicht gegen das Glück der vielen aufgewogen. Der Schutz des leidfähigen Individuums ist immer ein zentrales Argument in allen Überlegungen, auch wenn das Gemeinwohl vorrangiges Ziel bleibt. Dieser Punkt wird von den Kritikern gerne übergangen. Mill stellte aber klar fest: Eine Gesellschaft von Gleichen kann nur unter der Voraussetzung existieren, dass die Interessen aller gleichermaßen geachtet werden (John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 97). Und: Die Gerechtigkeit, die gebietet, die Rechte aller gleichermaßen zu schützen, wird selbst von denen vertreten, die die ungeheuerlichste Ungleichheit der Rechte selbst gutheißen (John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 137).
Dworkin gibt drei Prinzipien an, die die philosophische Basis des Utilitarismus darstellen (Ronald Dworkin: A Matter of Principle. Harvard University Press 1985): 1) das Konsequenzprinzip (Ethisches Handeln oder ethische Normen haben an ihren Konsequenzen gemessen und beurteilt zu werden.) – 2) das Utilitätsprinzip (Die Konsequenzen sind nach Maßgabe ihrer Fähigkeit, einen allgemeinen Nutzen zu bringen, zu beurteilen.) – 3) das Gleichheitsprinzip (Der Nutzen ist für jedes Individuum gleich zu bewerten – es darf nicht zu einer Ungleichbehandlung oder Ungleichbewertung von Individuen kommen.) Daran zeigt sich, dass der Utilitarismus nicht primär darauf abzielt, die Interessen des Individuums gegen die Interessen der Allgemeinheit aufzuwiegen. Jeder zählt gleich viel, denn jeder zählt genau ein Mal.
Den frühen Utilitaristen ging es vor allem um die Kritik an den gängigen Moralvorstellungen. Viele Moralsysteme übernahmen und zementierten einfach gängige Vorurteile und sittliche Konventionen. Und dagegen kämpften die Utilitaristen an. Die Intuition ließen sie als Quelle der Moral nicht gelten, schließlich folgt die Intuition im Allgemeinen nur den tradierten Gewohnheiten. Und diese zeigen sich bei genauerer Analyse als oft sehr unethisch. Auch das Naturrecht ist ungeeignet, weil es den unzulässigen Schluss vom Sein auf ein Sollen vollzieht, und daher unlogisch und vernunftwidrig ist. Letztendlich lässt sich damit fast alles rechtfertigen, weil es fast alles auch irgendwo gibt. Es kommt nur auf die Auswahl der Beispiele an. So gründeten sich die Rassengesetze der Nationalsozialisten auf ein Naturrechtsverständnis.
Die Utilitaristen suchten nach einer neuen Methode, um den Wert einer gegebenen Norm empirisch prüfen zu können. Dabei entwickelten sie das Konsequenzprinzip und das Utilitätsprinzip in all ihren Varianten, ohne dabei allerdings auf das neu aufgekommene Gleichheitsprinzip zu vergessen. Es ging ihnen immer auch um den Schutz von leidfähigen Individuen.
Fitzpatrick macht das mehr als deutlich: When Bentham advocated moral consideration for animals, and the decriminalisation of consensual sex acts, it is not the consequentialist nature of his argument that was shocking, but that animals or despised minorities should be argued for at all. When Mill argued in behalf of working class women or black slaves, what offended his contemporaries is that white male aristocrates should be morally compelled to modify their behavior in response to claims originating outside their class. And when Peter Singer argues today for massive increases in aid to the third world, vegetarianism, and the ending of factory farms, it is not the consequentialism that enrages his opponents (John Fitzpatrick: Starting with Mill. Continuum 2010, 139).
Ein gutes Beispiel für das angewandte Konsequenzprinzip ist die moderne Umweltschutzdebatte: es handelt sich hier um die Frage, welche Folgen unser jetziges Handeln für die Umwelt, für die anderen Lebensformen auf der Erde und für die zukünftigen Generationen des Menschen haben wird. Die Analyse der Folgenabschätzung führt dann zu Schlussfolgerungen, die unser Handeln entsprechend beeinflussen und verändern sollten.
Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es sowohl keine empirische, als auch keine rationale Begründung für Ethik geben kann, weshalb der Utilitarismus darauf abzielt, die konkreten Konsequenzen einer Norm oder Handlung als empirischen Maßstab zur moralischen Beurteilung heranzuziehen (siehe John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Reclam, 2006, 105). Versuche, den Utilitarismus auch als Normsetzungsverfahren einzusetzen, können im Großen und Ganzen als gescheitert angesehen werden.
An dieser Stelle muss nun auf den positiven Rechtsbegriff eingegangen werden: Nach positivem Rechtsverständnis sind Rechtsnormen, die nach formal gültigen Regeln entstanden sind, auch rechtsgültig. Die Legitimation der Rechtsnorm ergibt sich aus ihrem Entstehungsprozess. Es handelt sich hier um eine formale Legitimation. Davon zu unterscheiden ist eine inhaltliche Legitimation, die sich nur aus der Berücksichtigung der Konsequenzen ergeben kann. Das Problem besteht darin, dass positives Recht durch die formale Legitimation zwar Rechtssicherheit erzeugt, nicht unbedingt aber auch Gerechtigkeit. Hier wären utilitaristische Kontrollmechanismen wünschenswert.
Der Rechtsutilitarismus zielt genau darauf ab. Rechtsnormen und Normsetzungsverfahren sind mit utilitaristischen Mitteln und Methoden auf ihre Eignung zu prüfen. Für die Handlungen des einzelnen sind die geltenden Rechtsnormen – sofern sie legitim zustande gekommen sind – bindend. Allerdings bleibt hier die Frage offen, ob es einem Individuum gestattet sein darf, gegen geltendes Recht aufzubegehren, wenn es dieses als falsch oder ungerecht erkennt. Der Freiheitstheoretiker Mill würde diese Frage in Hinblick auf die Gewissensfreiheit sicher bejahen.

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