Tuesday, March 14, 2006

Latein ist unlogisch!

Ein alter Mythos wird zu Grabe getragen...



Latein wird immer noch gerne als Musterbeispiel einer logischen Sprache hingestellt. Ich bin kein Feind des Lateinischen (im Gegenteil: ich bin ein Freund aller Sprachen – auch des Lateins), dennoch muss ich als Aufklärer und Empiriker hier klar widersprechen. Das alte Vorurteil, das sich so stark hält, ist objektiv betrachtet absolut nicht haltbar!
Sofern der Begriff „logisch“ überhaupt auf eine natürliche Sprache angewendet werden kann, so ist er beim Latein jedenfalls fehl am Platz. In Bezug auf ein Sprache kann „logisch“ wohl nur meinen, dass es eine konsequente (d.h. widerspruchsfreie) Relation zwischen Form und Funktion eines Wortes oder eines Morphems geben muss. Würde das der Fall sein, wäre Latein eine einfach zu erlernende Sprache. Doch niemand behauptet – auch nicht die Lateinfanatiker – dass Latein eine leichte Sprache ist. Ganz im Gegenteil.
Meist wird argumentiert, dass Latein genaue Regeln kennt und sich daher eindeutig konstruieren lässt. Doch zeigt die Analyse, dass im Latein nichts dergleichen zu finden ist. Es gibt im Latein genau sechs Fälle in Ein- und Mehrzahl mit einer genau definierten Bedeutung, lautet die Behauptung. In Wahrheit hat keiner der lateinischen Fälle eine klare Bedeutung. Die einzelnen Fälle gleichen sich höchstens in der Mehrzahl ihrer Anwendungen. Doch dass ist kein hinreichendes Kriterium für „Logizität“. Der Gebrauch der Fälle ist daher im Latein primär eine Angelegenheit des grammatischen Zusammenhangs und der Sprachkonvention, nicht aber der Logik. Es ist nicht möglich, eine klare, eindeutige und durchgängige Regel für deren Verwendung anzugeben. So gibt es im Latein zwar einen Genitiv, der tritt uns aber in vielfältigen Funktionen entgegen. Die Lateiner unterscheiden daher zwischen einem Genitivus possessivus, partitivus, objectivus, explicativus, definitivus, qualitatis, pretii, criminis und subjectivus. Daher lässt sich die lateinische Formulierung „amor dei“ auf folgende Arten übersetzen: 1) die Gottesliebe, 2) die Liebe zu Gott, 3) die Liebe, die nur Gott gehört, 4) die Liebe als Teil Gottes; 5) die Liebe Gottes. Da soll sich jemand auskennen. Der eigentliche Sinn erschließt sich nur aus dem Kontext und ist grammatikalisch nicht festgelegt. Ähnliches gilt auch für die anderen Kasus: Ablativus instrumentalis, pretii, liminationis, mensurae, causae, modi, qualitatis, loci, temporalis, separatoris, originis, comparationis, absolutus sowie Dativus possessivus, commodi, finalis und auctoris. Wie soll bei dieser Fülle an Anwendungen ein klarer Ausdruck möglich sein? Wenn das Sprachgefühl nicht weiter hilft, bleibt nur noch das Raten. Aber es kommt noch dicker: es gibt auch keine eindeutigen Kasus-Markierungen! So kann die Endung –i für einen Genitiv im Singular (Maskulina und Neutra), für einen Nominativ im Plural (Maskulina), für einen Dativ oder Lokativ im Singular und bei gewissen Stämmen gar für einen Ablativ im Singular stehen. Noch verwirrender wird es bei der Endung –is (entweder Nominativ oder Genitiv im Singular oder aber Dativ und Ablativ im Plural). Die Endung –a kennzeichnet einen Nominativ Singular (Feminina), einen Vokativ Singular (Feminina), einen Ablativ Singular (Feminina), einen Nominativ Plural (Neutra), einen Vokativ Plural (Neutra) oder einen Akkusativ Plural (Neutra). Die Aufzählung der vieldeutigen Suffixe ist hier aber noch lange nicht zu Ende.
Es gibt im Latein wie bei den meisten flektierenden Sprachen weder eindeutige Endungen noch exakte Bedeutungen oder Funktionen derselben. Weder wird der Plural klar gekennzeichnet, noch die einzelnen Fälle. Zudem sind die einzelnen Deklinationsklassen nur tendenziell bestimmten Genera zugeordnet – normalerweise muss das grammatische Geschlecht mit dem Wort mitgelernt werden, da es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Wortform und Geschlecht gibt. In agglutinierenden Sprachen ist eine solche Situation undenkbar. Es gibt einen eindeutigen Suffix für den Fall (der auch eine eineindeutige Bedeutung hat) sowie eine eigene Endung für den Plural. Als Beispiel sei Ungarisch erwähnt. Hier werden räumliche Verhältnisse durch ein System von drei mal drei Suffixen wiedergegeben:
1. innen: in etwas sein – z. B. a házban – im Haus (drinnen)
2. innen: in etwas hinein – z. B. a házba – ins Haus (hinein)
3. innen: aus etwas heraus – z. B. a házból – aus dem Haus (heraus)
4. obenauf: auf etwas sein – z. B. a házon – auf dem Haus (oben)
5. obenauf: auf etwas hinauf – z. B. a házra – auf das Haus (hinauf)
6. obenauf: von etwas herunter – z. B. a házról – vom Haus (herunter)
7. daneben: bei etwas sein – z. B. a háznál – beim Haus (daneben)
8. daneben: zu etwas hin – z. B. a házhoz – zum Haus (hin)
9. daneben: von etwas weg – z. B. a háztól – vom Haus weg (hinfort)
Das System ist völlig logisch, regelmäßig und kennt keine Ausnahmen. Eine noch bessere Situation haben isolierende Sprachen. Sie können sich nur auf die inhärente Logik der Syntax verlassen. Somit sind diese im allgemeinen auch wesentlich logischer strukturiert und daher schneller zu erlernen (auch von den Babys)! Aber es ging den Lateinern nie um Klarheit, wie es die Abscheu vor (den klärenden) Präpositionen bezeugt: praepositiones, quae detractae afferunt aliquid obscuritatis, etsi gratiam augent. Wen wundert's da, dass das Flexionssystem verfallen ist...
Als zusätzliche Komplikation kommt hinzu, dass die Verwendung der Fälle vom jeweiligen Verb bestimmt wird. So steht das Objekt des Satzes nicht zwangsläufig im Akkustativ (ist doch logisch, nicht wahr). Einige Verben des Lateinischen verlangen als Objektsfall (oder sogar als Subjektfall) den Genitiv, manchmal auch einen anderen Kasus. Beispiele sind: tui obliviscor (ich vergesse dich – Genitiv); moris est (es ist Sitte - Genitiv); quid eius interest (was liegt ihm daran? - Genitiv); pecunia fit eius (das Geld bekommt er - Genitiv); paenitet me dicti (mich reut das Gesagte – Genitiv); persuadeo tibi (ich überrede dich – Dativ); mors nemini parcit (der Tod schont niemanden – Dativ) u.s.w. Aber die Sache wird noch komplizierter: da die flektierenden Sprachen auch durch heteroklitische Wortstämme gekennzeichnet sind (das heißt, bestimmte Begriffe werden je nach Kotext durch unterschiedliche Wörter oder Wortformen ausgedrückt), müssen für jeden Begriff meist mehrere Stämme gelernt werden, die je nach Fall benutzt werden müssen. So kann man sich auch auf die Wortstämme selbst nicht verlassen! (Beispiele sind iter/itineris oder Juppiter/Jovis oder Venus/Veneris). Das ist übrigens typisch für flektierende Sprachen. Am Auffälligsten und Ausgeprägtesten ist diese Erscheinung allerdings bei den Verben.
Damit kommen wir zur nächsten Wortgruppe, die wir betrachten müssen: zu den Zeitwörtern. Auch hier gibt es viele Ungereimtheiten. Erwähnt wurde bereits der Stammwechsel (Beispiele sind ago/egi/actum, cado/cecidi/casurum, edo/didi/ditum, fallo/fefelli/falsum, fero/tuli/latum, frango/fregi/fractum, fundo/fusi/fusum, gero/gessi/gestum, gigno/genui/genitum, pono/posui/positum, premo/pressi/pressum, tendo/tetendi/tentum, tero/trivi/tritum et cetera). Hinzu kommt, dass es Verben im Perfekt mit Präsensbedeutung sowie Verben im Passiv mit aktiver Bedeutung gibt. So kann der Satz „puer lavatur“ (Passiv) auf folgende Weisen verstanden werden: 1) der Junge wird gewaschen; 2) der Junge wäscht sich; 3) der Junge lässt sich waschen. Wo liegt hier der Sinn? Wo die innere Logik? Letztendlich sind das alles Konventionen. Die alten Lateiner argumentieren dabei sehr irrational: „Die Ausnahme bestätigt die Regel.“ Doch rein logisch betrachtet, widerlegt jede Ausnahme die Regel. Es gibt demnach keine gültigen Regeln. Es sind das sprachliche Gewohnheiten, die vom jeweiligen Kotext abhängen – und nicht von irgendeiner vorgegaukelten Logik!
Wenn noch berücksichtigt wird, dass es im Latein keinen fixen Syntax gibt – jedes Wort darf prinzipiell überall im Satz stehen – wird die Lage noch unübersichtlicher. So muss ein Lateinschüler so manches Rätsel lösen, z.B.: alta medio in horto ficus viridat, venusque spumanti in aqua nata est.*


Der berühmte Logiker Giuseppe Peano hat bereits die Unlogik des Lateins gebranntmarkt – weshalb er das klassische Latein als ungeeignet erachtete, als „linqua franca“ zu fungieren. Daher propagierte er ab 1903 sein „latino sine flexione“ – ein vom Ballast befreites Latein – in der bis 1950 sogar zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst worden sind.

Es gibt übrigens eine Kunstsprache, die völlig widerspruchsfrei nach dem prädikatenlogischen Modell konstruiert wurde: LogLan von James Cooke Brown.

Ostendit exemplis, quod lingua latina disserendi esse demonstrandum erat.



* Der hohe Feigenbaum grünt mitten im Garten, und Venus ist im schäumenden Wasser geboren oder geschwommen.

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