Wednesday, October 31, 2007

Okzitanisch - Die Sprache der Trobadors

Nichts ist schwerer, als eine Sprache zu definieren. Landläufig wird eine Sprache politisch charakterisiert: ein kodifizierter Standard (Akrolekt), der innerhalb bestimmter Grenzen formale Gültigkeit besitzt, wird als eigenständige Sprache angesehen. Natürlich kann das einen Linguisten nicht befriedigen. Häufig kann ein Sprachwissenschaftler keine festen Grenzen zwischen Sprachvarianten ausmachen, somit sind Sprachen für ihn einigermaßen homogene Ausschnitte oder durch bestimmte Gemeinsamkeiten gekennzeichnete Dialektgemeinschaften innerhalb eines mehr oder weniger graduierten Kontinuums, sofern allochthone Sprachen (das sind Sprachen der Neuzuwanderer) unberücksichtigt bleiben. Und dieses Kontinuum ist nicht nur räumlich zu verstehen, sondern auch zeitlich!
Verkompliziert werden die Sachverhalte noch dadurch, dass es in vielen Regionen noch einen Schriftstandard gibt, der erheblich von den lokalen Sprachformen abweicht. Diese Situation ist in Europa vielfach zu beobachten: Das Standarddeutsche überlagert nieder-, mittel- und hochdeutsche Sprachvarianten, die starke Verständigungsbarrieren darstellen, sowie das Friesische, das eigentlich der englischen Sprache nahe steht. Das Florentinische (heute Italienisch) dominiert über die anderen ostromanischen Dialekte und über Sardisch, Katalanisch (bei Alghero), Provenzalisch, Padanisch, Venezianisch sowie über die rätoromanischen Sprachvarianten (Ladinisch, Furlan und Grischun), aber auch über Bairisch und Slowenisch als nichtromanische Sprachen. Kastillisch in Spanien überlagert Katalanisch, Portugiesisch (Galizisch) und Baskisch. Und Französisch überdeckt neben Deutsch und Baskisch als nichtromanische Sprachen vor allem das Katalanische, das Gaskonische, das Korsische und das Okzitanische. Dafür wurde der südslawische Standard Serbokroatisch jüngst in drei bis vier mehr oder weniger eigenständige Sprachen aufgespaltet – wo eigentlich keine Verständigungsbarriere besteht.
Für Roger Bacon und seine Zeitgenossen waren übrigens alle romanischen sprachen nur Dialekte des Latein: Die Mundart ist eine von jeder andern unterschiedene Sonderart einer Sprache, wie das Pikardische, Französische und Provenzalische; denn die lateinische Sprache ist in allen ein und dieselbe der Substanz nach, aber je nach der Mundart variiert.
An diesem Zitat wird deutlich, wie ideologiegeprägt die Trennung von Sprache und Dialekt im Allgemeinen ist. Der Umfang des Begriffs Dialekt hängt vor allem davon ab, was als eigenständige „Sprache“ akzeptiert wird. Und hier scheint primär das Vorhandensein einer eigenen Schrifttradition ausschlaggebend zu sein.
Sprachen werden landläufig politisch definiert, wobei die Verschriftlichung eine entscheidende Rolle für die politische Präsenz spielt. Sprachen werden meist nur dann als eigenständig wahrgenommen, wenn sie auch ein standardisiertes Schriftsystem und ein offizielles Territorium besitzen: „A shprakh iz a diyalekt mit an armey un a flot“, konstatierte daher Max Weinreich ganz richtig (Yivo-bleter 25.1.13. – New York 1945).
Die Sprachwissenschaft geht hier natürlich anders vor. Viele Anthropologen und Linguisten geben als Minimalkriterium für die Kategorisierung einer selbständigen Sprache die Verständigungsbarriere an. Ein empirisches Mittel für die Statusbestimmung ist die lexikostatistische Distanz: Differiert der Wortschatz zweier Sprachvarianten stark, werden sie als eigenständige Sprachen betrachtet. Ist das Vokabular hingegen weitgehend deckungsgleich, gelten Sie als Dialekte einer Sprache. Diese messbare Feststellung der taxonomischen Distanz zweier Sprachvarianten ist seit den 1960er Jahren unter Linguisten in Gebrauch und seither ständig verfeinert worden.
Sprachwissenschaftlich betrachtet gehört das Okzitanisch zur galloromanischen Sprachengemeinschaft, die wiederum zum westromanischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie zählt. Damit sind schon einige Grundcharakteristika festgelegt: Als Angehörige des Indogermanischen handelt sich um eine flektierende Sprache mit zum Teil heteroklitischen Stämmen (das sind Wortstämme mit wechselndem Lautbild) und einem relativen Übergewicht an Konsonanten im Vergleich zu den Vokalen. Und während die ostromanischen Sprachen (Hauptvertreter sind Italienisch, Korsisch, Rumänisch, Aromunisch und das ausgestorbene Dalmatinisch der ostadriatischen Küstenstädte) die nichtpalatalisierten Velarplosive /g/ und /k/ vor hellen Vokalen (e und i) durch ein nachfolgendes H kennzeichnen (gh~ und ch~), schreiben die westromanischen Sprachen hier üblicherweise gu~ und qu~. Hier verweist gerade das H orthographisch meist auf eine Palatalisierung hin (z.B. fran.: chat, chevalier – span.: noche, hacha – port.: piranha, alho). Damit lässt sich meist schon an Hand des Schriftbildes eine Unterscheidung treffen. Strukturell unterscheiden sich beide Gruppen vor allem durch die unterschiedlichen Pluralbildungen beim Nomen: während die westromanischen Sprachen den Plural mit einem Suffix ~S markieren, bilden die ostromanischen Sprachen den Plural durch Vokalwechsel im Auslaut. Der Grund liegt im spätlateinischen Flexionsverfall, wo nur noch je zwei Fälle im Singular und Plural erhalten geblieben sind: caballus (Nominativ Singular), caballu (Akkusativ Singular), caballi (Nominativ Plural) und caballos (Akkusativ Plural). Im Osten erhielt sich im Plural die Nominativbildung, während im Westen die akkusativische Form bestehen blieb. Diese Abweichung scheint mit dem generellen Ausfall des auslautenden ~S in den ostromanischen Sprachen einherzugehen (ital.: tre – span.: tres / ital.: hai – span.: has / ital.: siamo – span.: somos). So kam es zur Trennung zwischen Ost- und Westromanisch. Nur das Sardische fällt aus diesem Schema heraus, da es vom Lautbild her noch sehr nahe beim klassischen Latein liegt (alle orthographischen C werden mit dem K-Laut wiedergegeben).
Daneben gibt es auch die weniger übliche Einteilung in zentralromanische und randromanische Sprachen: die romanischen Sprachen in Mitteleuropa haben zum Teil strukturelle und lexikalische Neuerungen, die die Randgruppen nicht erreichten, sodass die balkanromanischen und die iberoromanischen Sprachen einen etwas archaischeren Sprachstatus repräsentieren.
Die westromanischen Sprachen lassen sich wieder in die galloromanische und die iberoromanische Gruppe untergliedern – wobei die Zuordnung der einzelnen Sprachen nicht immer ganz klar ist. Die galloromanischen Sprachen im Gebiet vom heutigen Frankreich teilen sich prinzipiell in zwei Gruppen – nördlich und südlich der Loire: den nördlichen Langues d’oïl (vom altfranzösischen Wort oïl für ja) und den südlichen Langues d’oc (vom altokzitanischen Wort òc für ja). Von der letzten Bezeichnung stammt auch der Name für die Region Languedoc, die aber nur einen Teil des gesamten Sprachgebietes abdeckt. Beide Wörter (oïl und òc) entwickelten sich unabhängig aus der vulgärlateinischen Wendung hoc ille, die eine Zustimmung ausdrückte. Diese Unterscheidung wurde erstmals von Dante di Alighieri in seinem Werk De vulgari eloquentia (um 1300) getroffen, der sie auch noch von den Langues de si trennte. Das moderne Französisch ist ursprünglich der Pariser Dialekt der Langues d’oil – das so genannte Pikardische. Das Okzitanische – ein Begriff aus dem Mittelalter, unter welchem heute wieder die Langues d’oc zusammengefasst werden – untergliedert sich wiederum in regionale Dialekte. Im Norden umfasst es das Limousinische, das Auvergnatische und verschiedene alpine Varietäten (Piemont). Im Süden setzt es sich aus dem Languedokischen, dem Provenzalischen (Proensal) und dem Nissart (im Gebiet von Nizza) zusammen. Strukturell steht das Okzitanische dem Katalanischen näher als dem Französischen, nur die Orthographie ist mehr dem Französischen angeglichen, während das Katalanische sich an das kastillische Vorbild anlehnt. Vom Wortschatz her betrachtet sind die drei Gruppen (Französisch, Okzitanisch und Katalanisch) eher dem galloromanischen Bereich zuzuordnen und heben sich in dieser Hinsicht vom Iberoromanischen ab: port.: azul -- span.: azul – katal.: blau – okzit.: blau – fran.: bleu. Da aber der fränkisch-normannische Einfluss im Süden des heutigen Frankreichs weniger stark war, behielt das Okzitanische (wie auch das Katalanische) im Vergleich zum Französischen eher seinen romanischen Charakter.
Eine Mittelstellung zwischen den Langues d’oil und den Langues d’oc nimmt das Arpitanische ein, das zwar über keinen Standard verfügt, aber sich doch deutlich von beiden Gruppen abhebt. Es wird in der westlichen Aplenregion (Schweiz, Italien, Frankreich) und um Lyon (Rhônetal und Savoyen) gesprochen.
Im 12. Jahrhundert entwickelte sich das Okzitanische zu einer eigenständigen Kultursprache – vor allem als Trägerin der Trobaire-Dichtung – die weit in den romanischen Umraum ausstrahlte und die Nachbarsprachen nachhaltig beeinflusste. Die Trobadors (Einzahl: trobaire – fran.: trouvère, später hat sich als Lehnwort aus dem Süden die Form troubadour durchgesetzt) sahen sich als „Schöpfer“ einer neuen Dichtkunst, die den Frauendienst und die Verehrung der holden Weiblichkeit zum Inhalt hatte und dafür die Volkssprache verwendete. Durch die rege Wandertätigkeit der Minne-Sänger entstand ein recht einheitlicher Sprachgebrauch für diese Dichtung, der sich auch auf die Nachbargebiete ausdehnte. Die Breitenwirkung dieser Trobaire-Dichtung war so groß, dass zum Beispiel im benachbarten Katalonien jener Zeit die Prosatexte in Katalanisch und die Lyrik auf Okzitanisch verfasst wurden. Der Albigenserkreuzzug brachte dieser Blüte jedoch ein jähes Ende.
Der französische König Philipp II. nutzte nach kurzem Zögern 1209 den Aufruf von Papst Innozenz III. zum Religionskrieg und überfiel kurzerhand den geschwächten Süden. 1229 war diese gewaltsame und päpstlich abgesegnete Annexion durch Ludwig VIII. abgeschlossen, nachdem zuvor ein nicht unerheblicher Teil der ansässigen Bevölkerung getötet worden war. Die Inquisition trug in den Folgejahren das ihre zur Ausrottung vieler autochthoner Sprecher bei. Durch die staatliche Zentralisierung von Ludwig XIV. wurde das Okzitanische als Unterrichtssprache abgeschafft und der Gebrauch vollständig auf den privaten Alltag zurückgedrängt. Verschärft wurde diese Politik seit der Französischen Revolution 1789. Mit der neuen Idee der Nationalstaatlichkeit, die nur eine Amtssprache pro Staat (ist gleich Nation) erlaubte, wurden sukzessive alle anderen Sprachen im Staatsgebiet systematisch eliminiert. Dabei kam eine perfide Pädagogik zur Anwendung: Falls ein Schüler im Unterricht versehentlich ein nicht-französisches Wort benutzte, bekam er einen Holzstab in die Hand, den er solange behalten musste, bis ein anderer ein falsches Wort gebrauchte. Dann durfte er den Stock weitergeben. Am Ende des Schultages wurde jener Schüler für das Sprachvergehen bestraft, der den Stab zuletzt innehatte.
Nahezu alle Staaten Europas folgten diesen Verdrängungsprozess von Sprachen nach französischem Vorbild. Erst heute wird erkannt, welchen kulturellen Verlust diese Sprachpolitik bewirkt. Daher existieren nun Bestrebungen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten oder sie gar umzukehren. So existiert jetzt eine kodifizierte okzitanische Literatursprache, deren Richtlinien vom Institut d’estudis occitans in Tolosa (Toulouse) ausgearbeitet wurden. Leider wird dieser Standard aber nur von einem Teil der noch existierenden Sprecher angenommen – vor allem in der Provence wird um die Anerkennung eines eigenen provenzalischen Standards (Proensal) gekämpft. Heute gibt es im Süden Frankreichs noch schätzungsweise zwei bis drei Millionen Sprecher des Okzitanischen, wobei es sich vorwiegend um ältere Menschen auf dem Land handelt. Amtssprache ist es neben Kastilisch nur im Val d’Aran in Spanien (Aranesisch).

Ein Textbeispiel (Lyrik) auf Alt-Okzitanisch von Giraut de Bornelh (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts):
Reis glorios, verais lums e clartatz,Deus poderos, Senher, si a vos platz,Al meu companh siatz fizels aiuda;Qu’eu no lo vi, pos la nochs fo venguda,Et ades sera l’alba!
Glorreicher König, wahres Licht und wahrer Glanz,mächtiger Gott, Herr, wenn es Euch gefällt,seid meinem Gefährten ein treuer Beistand;denn seit Anbruch der Nacht sah ich ihn nicht,und schon bald wird der Morgen dämmern!

Hauptwörter im Vergleich:
Lat.: *carbonis – rum.: cărbune – ital.: carbone – fran.: charbon – oczit.: carbon – katal.: carbó – span.: carbon – port.: carvão (Kohle)
Lat.: frater – rum.: frate – ital.: frate – sard.: frade – fran.: frere – okzit.: fraire – katal.: frare – port.: frade (Bruder)
Lat.: homo – rum.: om – ital.: uomo – sard.: omine -- fran.: homme – okzit.: om – katal.: home – span.: hombre – port.: homem (Mann, Mensch)
Lat.: nox – rum.: noapte – ital.: notte – sard.: notte – fran.: nuit – okzit.: noitz – katal.: nit – span.: noche – port.: noite (Nacht)
Lat.: piscator – ital.: pescatore – sard.: piscadore – fran.: pêcheur – okzit.: pescaire – katal.: pescaire – span.: pescador – port.: pescador (Fischer)
Lat.: sanguis – rum.: sînge – ital.: sangue – sard.: sámbene – fran.: sang – okzit.: sancs – katal.: sanc – span.: sangre – port.: sangue (Blut)
Lat.: virtus – rum.: vărtuţi – ital.: virtú – sard.: virtude – fran.: vertu – okzit.: virtutz – katal.: virtut – span.: virtud – port.: virtude (Tugend)

Literatur:
Baier, Wilhelm Richard & Zinko, Christian (Hg.): Die Sprache ist die Seele eines Volkes – Die großen Sprachfamilien. Leykam, Graz 2004.
Baier, Wilhelm Richard: Diktyagogik – Bildung mit und ohne Netz. In: Wilhelm Filla (Hg.): Magazin für Erwachsenenbildung. Heft 193. 9—12. Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien 1999.
Bodmer, Frederick: Die Sprachen der Welt. Geschichte – Grammatik – Wortschatz in vergleichender Darstellung. 58—67. Kiepenhauer und Witsch, Köln und Berlin.
Collider, Björn: Sprache und Sprachen. Einführung in die Sprachwissenschaft. Helmut Buske, Hamburg 1978.
Crystal, David: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Deutsche Ausgabe von Stefan Röhrich u.a. Campus Verlag, Frankfurt & New York 1995.
Haarmann, Harald: Kleines Lexikon der Sprachen. Von Albanisch bis Zulu. C.H.Beck, München 2001.
Haarmann, Harald: Lexikon der untergegangenen Sprachen. C.H.Beck, München 2002.
Keller, Rudi: Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. UTB 1567. A.Francke, Tübingen 1990.
Kremnitz, Georg: Das Okzitanische – Sprachgeschichte und Soziologie. Romanistische Arbeitshefte 23. Max Niedermeyer Verlag, Tübingen 1981.
Lausberg, Heinrich: Linguística Românica. 2.a Edição. Fundação Calouste Gulbenkian, Lisboa 1963.
Metzing, Dieter (Hg.): Sprachen in Europa – Sprachpolitik, Sprachkontakt, Sprachstruktur, Sprachentwicklung, Sprachtypologie. Bielefelder Schriften zur Linguistik und Literaturwissenschaft. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
Pilch, Herbert: Empirical Linguistics. UTB 432. A.Francke, München 1976.
Schlösser, Rainer: Die romanischen Sprachen. C.H.Beck, München 2001.

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