Sunday, April 02, 2000

Betrachtungen zu Sprache und Zeit

Liegt die Zukunft vor oder hinter uns?

Auf den ersten Blick scheint die Frage absurd und die Antwort klar: die Zukunft liegt vor uns. Doch wie sind dann folgende Aussagen zu bewerten: Nach uns die Sintflut! Oder: Unsere Nachkommen werden es zukünftig besser machen.
Wieso folgt der "proconsul" der Funktion des Consuls, währenddessen der Vorläufer oder der Prototyp vorangeht?
Wie kann etwas Zukünftiges nach uns sein, wenn doch die Zukunft vor uns liegt? Aber ebenfalls unsere Vorfahren sind vor uns (eben in der Vergangenheit). Also war die Vergangenheit vor uns. Ist jetzt die Zukunft vor oder nach uns?
Hier scheinen zwei widerstreidende Konzepte vorzuliegen. Welche Vorstellungen stecken nun hinter diesen widersprüchlichen Ausdrucksweisen? Ich werde in diesem Aufsatz eine Analyse des Phänomens vorlegen.
Zwei unterschiedliche Anschauungen liegen diesen Verwendungsweisen der Beziehung VOR und NACH zugrunde. Ich will das eine das statische, das andere das dynamische Zeitkonzept nennen.
Beginnen wir mit dem dynamischen Zeitkonzept: Hier liegen Vorstellungen der Aktion zugrunde - wie Schauen oder Laufen. Ich schaue nach vorn und damit in die Zukunft. Ich blicke zurück und somit in die Vergangenheit. Ich gehe voran und so in die Ungewissheit des Kommenden (Adventura = Abenteuer). Ich kehre zurück in vertraute, altbekannte Gefilde. Ich habe jetzt eine Vorsehung, danach aber das Nachsehen.
Hier ist klar, was VOR und was HINTER einem liegt. Das noch Ungeschaute oder Unbeschrittene - eben das Kommende - liegt vor uns, das Bekannte, Geschaute, "Erfahrene" liegt hinter uns (lat. visi = ich habe gesehn = ich weiß es bereits, es ist mir bekannt). Es scheint sich also um ein sehr archaisches Konzept zu handeln.
Das statische Zeitkonzept geht von einer Abfolge aus und steht in einem starken Zusammenhang mit dem Zählen. In einer Reihe von Ereignissen gibt es welche, die in der Aufzählung zuerst waren, während andere nachfolgten. Die einen waren vorher, die anderen sind nachher. Es ist erkennbar moderner als das dynamische Bild von der Zeit. Kein Wunder, dass es uns vor allem in metrischen Zeitangaben entgegentritt: 15 Minuten vo 12 Uhr oder 30 Minuten nach 14 Uhr. Hier entpricht das Früher dem Vor, das Später dem Nach. Zum Beispiel die Wochen zuvor und der Tag danach. Das Vorjahr und der folgende Monat.
Dennoch gibt es hier Überschneidungen der beiden Konzepte. So ist das Jahr vor uns zugleich das Jahr darauf, also nach diesem Jahr und nicht das Vorjahr!
Hierin zeigt sich, dass es noch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Zeitkonzepten gibt: das dynamishe Prinzip ist ich-deiktisch, bezieht sich also immer auf die erste Person. Das Jahr vor Tschernobyl ist ein anderes als das Jahr, das mir noch bevorsteht. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Zukunft. Von mir aus betrachtet, liegt das Jahr vor mir in der Ferne des Kommenden. Das Jahr vor Tschernobyl liegt unabhängig von mir an seinem fixen Platz in der Geschichte.
Der Konflikt zwischen den beiden Verwendungsweisen der temporalen Relativpronomen VOR und NACH lässt sich demnach auf zwei Arten erklären. Einerseits stehen unterschiedliche Zeitkonzepte zugrunde.
Einmal handelt es sich um das dynamische Konzept der Aktivität, wo das potenziell Kommende auf die vor einem liegende Zukunft verweist und das bereits Aktualisierte sich nach hinten in die Vergangenheit schiebt. Es entspricht somit auch dem modernen Zeitbegriff der Thermodynamik. Es fällt auf, dass es grammatikalisch immer nur imperfektiv (meist in der Gegenwart) auftritt.
Einmal ist es ein Glied in einer abzählbaren Reihe von Ereignissen, wobei von einem Punkt aus betrachtet, kleinere Zählwerte davor liegen und größere Zählwerte nachfolgen. Auch unsere Vorfahren und Nachkommen werden in dieser Weise "gezählt". Hier ist der Gebrauch meist perfektivisch (häufig im Präteritum). So kann gesagt werden: Das folgende Jahr steht mir bevor, das vergangene Jahr war vor mir.
Andererseits ist der Aspekt der Ich-Bezogenheit im dynamischen Konzept nicht außer acht zu lassen, der dem statischen Zeitbild fehlt. Wobei es so ist, dass durch die Dynamik zugleich die Abhängigkeit - also auch der Bezug - zum Agens des Satzes gegeben ist. Die Bezogenheit auf das Subjekt ist im dynamischen Zeitkonzept implizit enthalten.
Ich habe das thermodynamische Bild der Zeit bereits angesprochen. Es ist durchaus berechtigt, die beiden Zeitkonzepte auch als thermodynamisch bzw. als cartesisch (d.i. statisch) zu bezeichnen. Obwohl es sich beim dynamischen Zeitbild in unserer Sprache offensichtlich um das ältere Konzept handelt, erweist es sich nun als das modernere. Vom szientistischen Standpunkt aus hat die thermodynamische Vorstellung die cartesische abgelöst, obwohl sie aus praktischen Erwägungen unverzichtbar ist.
Die Zeit, die vor uns liegt, ist nicht die graue Vorzeit. Das ist klar. Einmal erscheint uns die Ungewissheit des Komenden vor unseren Augen, in das wir eintreten, das andere Mal sehen wir das Unklare (aber Gewisse) der fernen Vergangenheit, deren Abkömmlinge wir zwar sind, die wir aber nie betreten können. Wieso uns dennoch in beiden Fällen die Relation VOR entgegentritt, hoffe ich mit diesem Aufsatz geklärt zu haben.

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