Monday, November 27, 2000

Janusköpfige Zeit

Zur Dichotomie des Zeitbegriffs

Die Ironie des Lebens liegt darin, dass man es vorwärts lebt, aber rückwärts begreift.
Søren Kirkegaard

Die Zeit hat zwei Gesichter. Damit gleicht sie Janus, dem Gott des vorletzten alt­römischen Monats (Abb. 1). Janus ist der Gott der Pforten, der Übergänge, der Passagen. Er schaut nach vor und zurück. Somit versinn­bildlicht er das Werden und Vergehen. Er verknüpft in seiner Gegenwart die Ver­gangenheit mit der Zukunft. Daher steht er motivgeschichtlich in einem engen Zu­sammenhang mit den Moiren Klotho (sie spinnt den Lebensfaden), Lachesis (sie leitet das Geschick) und Atropos (sie ist unabwendbar). Eine gleichbedeutende Trinität bilden auch die hinduistischen Trimurti in der Gestalt von Brahma (der Erzeuger), Vishnu (der Erhalter) und Shiva (der Zerstörer). Der slawische Triglav ist ebenfalls dreiköpfig. Die Zeit tritt uns hier in ihrem Aspekt der Ver­gäng­lichkeit entgegen. Zeit passiert. Sie bedeutet Verän­de­rung, oder mit dem Slogan Heraklits: panta rei!
Augustinus vergleicht in seinen Bekenntnissen die Zeit mit der göttlichen Trinität, wenn er meint: es gibt drei Zeiten, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft. Genauer vielleicht wäre es zu sagen: es gibt drei Zeiten, die Gegenwart des Vergangenen, die Gegenwart des Gegenwärtigen und die Gegenwart der Zukunft. In der Seele nämlich sind diese drei; anderswo sehe ich sie nirgends (aus: Kniebe 1993).
Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt der Zeit, der auch sprachlich zum Ausdruck kommt. Einerseits sagen wir: Die Zeit verrinnt. Hier tritt uns das Bild der Sanduhr entgegen. Die Zeit im unaufhörlichen Fluss, ohne Wiederkehr (Abb. 2). Auf der anderen Seite heiszt es auch: Die Zeit vergeht. So wie die Sonne über den Himmel wandert oder der Mond seine Phasen wechselt. Die Zeit beschreitet Pfade, die sie prinzipiell auch wieder zurücklaufen könnte.
In der Physik begegnet uns die Zeit andauernd. Sie wird gemessen – genauer gezählt – an periodischen Bewegungen (Pendel, Rotation, Schwingungen). Eine solcher Periodizitäten wird herangezogen und mit anderen Vorgängen in Beziehung gesetzt. So erhält man ein Zeitmasz: dieser Vorgang benötigt die Zeit von soundsovielen dieser periodischen Einheiten. Das interessante dabei ist, dass sich in der neueren Physik zeigt, dass diese Art der Zeit keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, und auszerdem eine inhärente Eigenschaft des Raumes darstellt (Zeitfunktion).
Exkurs: Wir setzen dabei voraus, dass elementare Schwingungen innerhalb eines Inertialsystems, die heute zur Messung der Zeit herangezogen werden, sich nicht (spontan) ändern. Natürlich ist diese erwartete "Gleichförmigkeit" der Natur unbegründet. Allerdings liesze sich Gegenteiliges niemals feststellen, da wir nicht über die Welt hinaus können, und daher bleiben solche Spekulationen für uns irrelevant (HOFFMANN 1983). Von Inertialsystem zu Inertiatsystem gibt es aber durchaus Abweichungen!
In der klassischen Physik sind also alle Vorgänge auch umgekehrt denkbar. Die Vergangenheit ist gleich der Zukunft. Ich werde ihre Zeit daher metrisch nennen, da sie geometrisch darstellbar ist. Sie spaltet sich in die vier Raumkoordinaten auf. (Einstein erkannte, dass sich jede Raumdistanz auch als Zeitdistanz verstehen lässt. Daraus ergeben sich mathematisch vier zeitäquivalente Achsen.) Es handelt sich also eigentlich um vier zeitartige Phasen in der vierdimensionalen Raumzeit. Doch ist damit jeder Zeit­punkt gleichwertig – eine Zeitrichtung ist dadurch nicht festgelegt.
Exkurs: Die vierdimensionale Raumzeit kann also auch zeitlich verstanden werden. Distanz lässt sich durch die Beziehung (s = vt und c = 300.000 km/s) insbesondere auch über den Lichtweg be­schreiben. Das heiszt, dass die Distanz durch die Zeit, die das Licht braucht, angegeben wer­den kann. Eine Raumsekunde entspricht daher etwa 300.000km. Damit wird die Distanz in der Raum­zeit zu einer zeit­lichen Dimension. Oder anders ausgedrückt: räumliche Distanz ist immer zugleich auch zeitliche Distanz. Aber eine mathematische Formalisierung darf nicht mit der Realität verwechselt werden, die sie ja nur deren Beziehungen logisch handhabbar macht (BARROW 1998). So erzählt uns der Philosoph Honor BROTMAN (1969) über den vierdimensionalen Hyper­würfel, dass er acht begrenzende Räume, 24 Flächen, 32 Kanten und 16 Ecken habe (Abb. 3). In seinem interessanten Gedanken­experiment versucht er analog zur Projektion eines Körpers in der Ebene (Zeichnung) die Projektion eines überdimensionalen Körpers in den Raum. Da sich aber der dreidimensionale Raum nur unter Einbeziehung zeitlicher Aspekte mathematisch als vierdimensionaler Phasenraum darstellt, ist dieser intelligente Versuch meiner Meinung nach mit der empirischen Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen, da er ohne zeitliche Dimension auskommt (vgl. dazu Peter JANICH 1989).
Zeit wird relativ und umkehrbar. Wir könnten theoretisch von einer Zeit in eine andere springen, wenn es uns gelingt, die Raumkoordinaten zu verkürzen (z.B. durch ein Wurmloch im Raum). Wir könnten unsere eigene Kindheit besuchen. Doch unsere Alltagserfahrung widerspricht solchen Vorstellungen. Kausale Abfolge ist damit jedenfalls in­kom­mensurabel.
Exkurs: Ist die Lichtgeschwindigkeit die oberste Grenze der Informationsübertragung, bleibt die Kau­sa­lität zwar erhalten, lässt aber auch keine bevorzugte Zeitrichtung erkennen. Mithilfe der Lichtge­schwin­­dig­­keitsbarriere wird über und unter einem Ereignis E je ein Lichtkegel konstruiert. Sie zeigen an, welche Er­eig­nis­se in der Raumzeit mit E in Verbindung stehen kön­nen (Abb. 4). Für E selbst gibt es daher immer ein davor (Licht kommt an) und ein danach (Licht geht ab). Prinzipiell verhalten sich die Gesetze der Physik daher indifferent in bezug auf die Zeit, da sich dieser Vorgang auch in umgekehrter Richtung denken lässt. Alles ist auch rückläufig beschreibbar, der Doppelkegel ergibt auf den Kopf gestellt das gleiche Bild.
Aber es gibt auch noch das andere Zeitmodell. Dieses eignet sich nicht zum Messen der Dauer von Vorgängen, erlaubt aber die klare Trennung von Vergangenheit und Zukunft: die entropische Zeit. Nur mit ihrer Hilfe lässt sich für ein Ereigniss E der Lichtkegel der Vergangenheit vom zukünftigen Lichtkegel unterscheiden!
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik zeichnet sich dadurch aus, dass er die Richtung von Abläufen und Entwicklungen definiert – und somit ein zeitliches Ge­richtetsein (den sogenannten Zeitpfeil). Niedrigere Entropie bedeutet Ver­gangenheit, höhere Entropie Zukunft. Mit dem Einzug der Statistik in die Mechanik durch Boltzmann sind auch diese Vorgänge groszteils nicht mehr als reversibel zu beschreiben. Die Vegangenheit ist nun durch die Entropie­grenze – den Gegen­warts­transienten – von der Zukunft getrennt. Der Weg zurück ist ausgeschlossen. Dieser Transient lässt nur eine Richtung zu, daher ist die entro­pische Zeit irre­versi­bel: ein zerbrochenes Glas wird von selbst nie wieder ganz.
Exkurs: Der Entropiesatz ist rein empirisch und läßt sich ver­nunftmäßig schwer erfassen. Er drückt kein Gesetz im strengen Sinn – son­dern nur hohe Wahrscheinlichkeit aus. Manfred EIGEN (1988) unterscheidet daher in Anschluss an Ilya Prigogine eine „schwache“ von einer „starken“ Zeitlichkeit. Entropie erzeugt eine schwache Zeitlichkeit, währenddessen erst „Phasensprünge“ eine starke Zeitlichkeit hervorrufen.
Eigentlich ist nur dieser Transient real. Die Zukunft existiert noch nicht und die Ver­gangenheit ist nicht mehr. Wir reiten sozusagen auf einer Gegenwartswelle durch die Raumzeit, ewig im Jetzt gefangen. Oder anders ausgedrückt: Wir stehen am Hori­zont der Vergangenheit. Wir sehen zwar die Vergangenheit, nicht aber die Zukunft. Denn die Vergangenheit war jeweils für einen Augenblick Realität, die Zukunft aber nicht. Diese Front schiebt sich ständig weiter und hinterlässt das Vergangene. Zeit heiszt hier Wandel.
Hegel sieht in diesem Wandel seine Dialektik bestätigt. Er schreibt in der Vorrede zu seiner „Phänomenologie des Geistes“: Die Knospe verschwindet in dem Hervor­brechen der Blüte, und man könnt sagen, dass jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander.
Exkurs: Es ist das Unberücksichtigtlassen der Entropie, die den Kosmos ebenfalls beherrscht, die es manchen Physikern immer wieder schlüssig erscheinen lässt, dass Bewegungen in die Vergangenheit möglich wären (vgl. Richard FEYNMAN 1967). Doch was mathematisch beschreibbar ist, muss nicht realiter so sein. Zeitreisen würden implizieren, dass alle möglichen Ereignisse (egal ob der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft) gleich aktual und greifbar sind. Damit wären wir beim statischen Block-Universum angelangt (BARROW 1998), eine Spekulation, für die es bis jetzt kein einziges empirisches Indiz gibt. Mathematik und Logik liefern uns eben keine Erkenntnisse über die Welt – sie loten nur Prämissen aus (BARROW 1998). Die Erkenntnis kann nur auf Tatsachen aufbauen, sonst besitzt sie kein Fundament (dieses selbst ist schon wackelig genug). Die Raumzeit ist mit logischen Mitteln fassbar, die entropische Zeit ist es nicht. Wäre die Raumzeit unabhängig von der Entropie (bzw. ohne sie) gegeben, wären Zeitreisen wahrscheinlich zulässig. Doch die Entropie schränkt diese Denk­möglichkeit erheblich ein. Plötzlich ist es nicht mehr so einfach, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schlieszen, da die fort­schreitenden Übergänge nur statistisch beschreibbar sind. Uns fehlt daher die logische Gewissheit. Das Universum selbst scheint demnach dissipativ und dynamisch zu sein. Kurt Gödel hat aber gezeigt, dass Zeitreisen ein statisches Universum benötigen, welches sich nicht ausdehnt (KRAUSS 1996). Und Stephen HAWKING hat mit seinem Ausspruch: Schwarze Löcher haben keine Haare (1977) erstmals die Bedeutung der Entropie in der Kosmologie gewürdigt. Auch Schwarze Löcher gehorchen dem zweiten Hauptsatz und besitzen daher eine Vergangenheit und eine Zukunft – also eine entropische Zeit, auch wenn die Raumzeit aufgehoben scheint. Es gibt keine Spanne mehr zwischen Vergangenheit und Zukunft – die raumzeitlichen Dimensionen fehlen. Für das Schwarze Loch selbst existiert keine Zeit zwischen Entstehen und Vergehen.
Die Zeit erweist sich somit als ein schwieriges Thema. Obwohl allgegenwärtig ist sie kaum greifbar. Sie erscheint uns als ewiges Jetzt, das die Zukunft von der Vergan­gen­heit trennt – dennoch lässt sie sich nicht auf einen Punkt reduzieren. Zeit ist immer auch Zeitspanne. Als kleinste zeitliche Einheit (Zeitquant) gilt heute das Chronon mit 10E-43 Sekunden. Was ist das also: Zeit?
Der Zeitbegriff umfasst also zwei divergente Bedeutungen (Tab. 1): Einerseits bezeichnet Zeit die messbare Distanz von Vorgängen. Andererseits ist mit Zeit die Gerichtetheit vieler Abläufe gemeint, die eindeutig eine Vergangen­heit von einer Zukunft scheidet. Dieser Aspekt ist allerdings nicht messbar, sondern nur statistisch konstatierbar. Bereits Aristoteles hat auf eine analoge Unterscheidung hingewiesen (Zeit als KINESIS versus Zeit als METABOLE, vgl. Mainzer 1995).
Somit wären wir wieder bei Janus angelangt. Die Zeit hat zwei Gesichter. Werden diese beiden Aspekte der Zeit vermengt, was der gemeinsame Begriff natürlich nahelegt, kommt es zu schwer­­wiegenden Konfusionen. Philosophie und Wissen­schaft sind voll davon. Ich hoffe, mit meinem Beitrag etwas zur Klärung beigetragen zu haben.
Exkurs: Das Auseinanderhalten der beiden Aspek­te der Zeit (metrisch und entropisch) könnten viel­leicht einige Verwir­run­gen lösen und eventuell auch den Streit zwischen A.N.Prior und W.O.V.Quine in bezug auf eine Zeitlogik schlichten (siehe Susan HAACK 1978). Quine hat meiner Mei­nung nach die metrische Zeit im Auge, während Prior sein Augen­merk scheinbar auf die entropische Zeit legt.
Auszeit!


ZEITTABELLE © Wilhelm Richard Baier, PhD, 1995




Literatur:
Augustinus: Bekenntnisse, 20. Kapitel. In: Georg Kniebe (Hg.): Was ist Zeit? Die Welt zwischen Wesen und Erscheinung. 292. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1993.
John D. Barrow (1998): Die Entdeckung des Unmöglichen. Forschung an den Grenzen des Wissens. 292 & 350. Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg und Berlin, 1999.
Honor Brotman (1969): Könnte der Raum vierdimensional sein? In: Eike von Savigny (Hg.): Philosophie und normale Sprache. Texte der Ordinary-Language-Philosophy. 50—62. Karl Alber, Freiburg und München 1969.
Manfred Eigen (1988): Jenseits von Ideologie und Wunschdenken. Perspektiven der Wissenschaft. 107—138. Serie Piper, Band 921, München 1991.
Richard P. Feynman (1967): Die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. In: Vom Wesen physikalischer Gesetze. 135—156. Serie Piper, Band 1748, München 1990.
Banesh Hoffmann (1983): Einsteins Ideen. Das Relativitätsprinzip und seine historischen Wurzeln. 47—48. Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin und Oxford 1997.
Susan Haack (1978): Philosophy Of Logics. 156—162. Cambridge University Press, Melbourne and New York 1995.
Stephen W. Hawking (1977): Die Quantenmechanik Schwarzer Löcher. In: Einsteins Traum. Expeditionen an die Grenzen der Raumzeit. 97—111. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993.
Peter Janich (1989): Euklids Erbe – Ist der Raum dreidimensional? H.C.Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1989.
Lawrence M. Krauss (1995): Hawking deckt auf. In: Die Physik von Star Trek. 43—67. Wilhelm Heyne, München 1996.
Klaus Mainzer (1995): Zeit – Von der Urzeit zur Computerzeit. 87. Beck’sche Reihe 2011, 3. Auflage, München 1999.

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