Die Folgen der Schriftkultur
Konsequenzen der Literalität
Jack Goody & Ian Watt (1986)
Goody und Watt versuchen in ihrem Artikel die Unterschiede zwischen einer literalen und einer illiteralen Gesellschaft herauszuarbeiten. Gedacht ist der Beitrag als Entgegnung zu jenen Positionen in den Humanwissenschaften, die solche Differenzen leugnen oder als nicht relevant abtun.
Am Beginn steht die Beschreibung von illiteraten Gesellschaften, in deren Sprachen sie eine jeweils gemeinsame "Weltanschauung" repräsentiert sehen. Das Vokabular einer solchen Sprache reflektiert demnach die besonderen Interessen dieser Menschen. Das, was von sozialer Bedeutung ist, wird im Gedächtnis gespeichert, alles Übrige wird in der Regel vergessen. Die mündliche Überlieferung erfüllt somit eine homöostatische Funktion innerhalb der Sozietät und dient nicht primär der Bewahrung von Wissen. Als Beispiel führen sie die bedeutenden Genealogien in solchen Gesellschaften an, die den sozialen Kontext codifizieren und sich daher auch ständig ändern (Beispiele: Tiv und Gonja, Seite 70ff). Dadurch kommt es zu einer Verschmelzung von Mythos und Geschichte: Elemente des kulturellen Erbes, die ihre Bedeutung für die Gegenwart verlieren, werden in der Regel alsbald vergessen oder verändert (Seite 73).
Als Zwischenstufe betrachten die Autoren die so genannten pro- oder oligoliteraten Gesellschaften, die durch eine Bilderschrift gekennzeichnet sind. Doch lässt sich hier schon eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur Phonetisierung der Schrift erkennen. In der Endphase dieser Entwicklung steht die logographische Schrift (z.B. das Chinesische). Dennoch haben diese Schriftformen ihrer Meinung nach entscheidende Mängel, was auch in einer gewaltigen Kluft zwischen literaten und illiteraten Gesellschaftskreisen zum Ausdruck kommt. Das Lesen und Schreiben war durchwegs esoterisch, denn diese Kulturtechniken wurden wie ein Geheimnis gehütet. Daher auch die griechische Bezeichnung „Hieroglyphen“. Nicht einmal Könige konnten lesen und schreiben. Sie zitieren dazu einen Ägypter zur Zeit des Neuen Reiches: Der Schreiber ist von der Handarbeit entbunden; er ist derjenige, der die Befehle und Anordnungen gibt (Seite 77). Auszerdem wirken diese Scheibmodi auch konservierend: denn piktographische und logographische Systeme haben beide die Tendenz, die Bestandteile der natürlichen und der sozialen Ordnung zu verdinglichen, durch ihre Art der Aufzeichnung das aktuelle Bild der sozialen und ideologischen Situation als ein beständiges erscheinen zu lassen (Seite 78).
Die nächste Stufe zur höchsten Form der Literalität – gemeint ist ein rein phonetisches Schriftsystem – bilden die Silbenschriften. Hierzu zählen sie auch die semitischen Alphabete. Sie dienten hauptsächlich als Gedächtnisstütze und waren nicht Allgemeingut. Doch hier setzt bereits allmählich die Diffusion der Schreib- und Lesekunst in die breite Öffentlichkeit ein. So wurde die Thora lange Zeit noch wie ein Geheimnis in der Bundeslade verwahrt. In der Bevölkerung blieb daher die mündliche Überlieferung noch lebendig. Erst zur Zeit Ezras (ca. 444 aCn) wurde eine offizielle Version der Thora veröffentlicht. Nun war die Schrift prinzipiell jedem zugänglich. Dennoch blieb eine gewaltige Kluft zwischen den Literati und den Laien bestehen, wie es auch in den Evangelien zum Ausdruck kommt.
Der Durchbruch zu einer demokratischen Schriftform vollzog sich ihrer Meinung nach in Griechenland, wo sich erstmals eine phonetische Schrift etablierte. Damit ging auch eine allgemeine Alphabetisierung einher, was sich am Beispiel des ostrakismoV zeigen lässt. Allerdings kamen dieser allgemeinen Verbreitung der Schriftlichkeit verschiedene soziale, ökonomische und technologische Faktoren zu Hilfe. Es kam im 8. Jahrhundert aCn zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in Griechenland, sodass der Handel blühte. Die griechischen Stadtstaaten waren nicht zentralistisch verwaltet, sondern bewahrten grosze Selbständigkeit und damit einhergehend auch grosze Flexibilität. Und die Einfuhr von Papyrus aus Ägypten machte das Schreiben billig! Einzuräumen ist jedoch noch, dass das Entziffern der griechischen Schrift in klassischer Zeit nicht einfach war, da die Wörter nicht immer in der gleichen weise voneinander getrennt wurden (Seite 85). Ich muss dazu korrigierend bemerken, dass zu jener Zeit die Wörter noch gar nicht getrennt wurden. Auszerdem war es lange noch üblich, in Mäandern zu schreiben! Durch den Lautwandel in der Sprache entfernten sich mit der Zeit Sage und Schreibe immer mehr voneinander, sodass es 403 aCn zur radikalen athenischen Rechtschreibreform kam, die das Griechische in der heute bekannten Form fixierte (hebe ® hbh; Lamer 1976).
Werner Jaeger (Seite 87) meinte, dass damit auch ein Wandel vom mythischen zum logisch-empirischen Denken einherginge. Diese Unterscheidung hat grosze Ähnlichkeit mit der Theorie von der „prälogischen“ Mentalität primitiver Völker nach Lévy-Bruhl (Seite 87). Allerdings lassen die Autoren diese strenge Dichotomie zwischen unphilosophischem und philosophischem Denken nicht gelten. Sie sehen hier eher eine Trennung von Mythos und Geschichte vollzogen. So traf erstmals Thukydides die bedeutsame Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte, die in illiteraten Gesellschaften nicht beachtet wird. Oder mit den Worten von Yeats: Wissenschaft ist die Kritik von Mythen; hätte es kein Buch der Genesis gegeben, so gäbe es auch keinen Darwin (Seite 90).
Goody und Watt meinen dazu: Die Prosaschriftsteller, aber auch die Dichter, verfolgen die bewusste Absicht, den Mythos durch etwas zu ersetzen, das mit ihrer Idee des logos – der allgemeinen und umfassenden Wahrheit, die offenkundige Widersprüche versöhnt – eher übereinstimmt (Seite 91). Sie zitieren hiefür auch Kirk und Raven: Die ersten rein rationalen Versuche, das Wesen der Welt zu erfassen, wurden in Ionien unternommen (Seite 89, Fusznote). Auf meine Einwände werde ich später eingehen.
Den Motor für diese Entwicklung sehen die Autoren vor allem in der unveränderten Verfügbarkeit alter Geschichten und Gesänge über die Zeit hinweg durch die schriftliche Fixierung. Das so festgehaltene Material lässt erst Kritik greifen. Auszerdem führt die Konservierung eines bestimmten Status einer Erzählung unweigerlich dazu, dass diese veralten. Sie können sich nicht mehr an neue Rahmenbedingungen adaptieren. Somit tritt zugleich die Geschichtlichkeit deutlich zu Tage. Die Mythen verlieren für das Jetzt die nötige Relevanz! Ich zitiere die Autoren: Die Niederschrift einiger der wesentlichen Elemente der kulturellen Tradition in Griechenland machte zwei Dinge bewusst: den Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart und die inneren Widersprüche in dem Bild des Lebens, das dem Individuum durch die kulturelle Tradition, soweit sie schriftlich aufgezeichnet war, vermittelt wurde (Seite 105).
Doch mit der allgemeinen Verbreitung der Literalität wurde auch die Kritik an dieser selbst laut. Als Beispiel greifen die Autoren auf Platon zurück, der sich mehrfach kritisch zu dieser Entwicklung geäuszert hat. Einerseits schreibt er in Protagoras (313e), dass die Schriftsteller das Wissen in eine Handelsware verwandelt hätten, eine Ware, die gefährlich sei, wenn der Käufer nicht schon wisse, was heilsam und was schädlich sei (Seite 96). Andererseits verweisen sie auf Phaidros (276a): Das durch die Schrift überlieferte Wissen ist oberflächlich, weil die Lektüre von Büchern ein trügerisches Gefühl des Wissens erzeugt, das in Wirklichkeit nur durch mündliche Fragen und Antworten erlangt werden kann (Seite 97). Denn stöszt man oder frau auf Unverständnis, so kann das geschriebene Wort nicht befragt werden, es sagt einem nämlich immer nur ein und das dasselbe (Seite 98). Doch die Einstellung Platons zur allgemeinen Literalität muss viel komplexer gewesen sein, schlieszlich hat er ja auch selbst geschrieben (wenn auch zumeist Dialoge). Die Autoren bemerken abschlieszend dazu: Die wachsende Zahl von Büchern und Lesern und das dadurch bedingte gröszere öffentliche Bewusstsein von historischer Veränderung liesz gegen Ende des fünften Jahrhunderts in Athen kein Ausweichen von dieser Problematik mehr zu; und Platon war zwischen seinem Interesse an den prosaischen, analytischen und kritischen Verfahren des neuen literarischen Denkens einerseits und seiner gelegentlich auftretenden Sehnsucht nach den ungeschriebenen Gesetzen der Vorfahren und den poetischen Mythen, in denen sie bewahrt wurden, andererseits hin- und hergerissen (Seite 99).
Daher heben Goody und Watt im nächsten Abschnitt die Bedeutung Platons für die spätere Geschichte der abendländischen Philosophie hervor, die in erster Linie von der Literalität geprägt ist. Ihm ging es ja vornehmlich um die Scheidung von Wahrheit (episthmh) vom bloszer Meinung (doxa). Sie sehen die Literalität als Ursache für dieses in Griechenland tiefverwurzelte epistemische Interesse an, weil das geschriebene Wort ein ideal definierbarer Wahrheiten nahe legt, die eine ganz andere inhärente Autonomie und Dauer haben als Phänomene, die sich im Fluss der Zeit und durch widersprüchlichen Sprachgebrauch verändern (Seite 100). Sobald den Wörtern ¼ durch die Schrift eine materielle Gestalt verliehen wird, nehmen sie ein eigenes Leben an (ebenda). Den Höhepunkt dieser Entwicklung sehen sie in Aristoleles‘ Analytika, in denen er den Syllogismus darlegt.
Es ist hier zu betonen, dass noch in frühklassischer Zeit eigene Staatsbeamte mit dem Auswendiglernen der Gesetze und Gerichtsprotokolle betraut waren (sozusagen lebende Archive). Daher auch das hohe Ansehen der mnhmosunh, die auch als die Mutter der Künste (mousai) betrachtet wurde. Kunst wurde damals immer im Zusammenhang mit Gedächtnisleistungen gesehen, alles andere war nur tecnh (Handwerk).
Diese klassische Kritik an der Literalität erinnert uns in vielem an moderne Auseinandersetzung mit den neuen Medien. War es dort der Verlust an Gedächtnisleistung, der die Kritiker beflügelte, ist es heute der Verlust an Systematik und Ganzheitlichkeit, der beklagt wird (Postman 1989). Wir verlieren den Kontext! (Baier 1999). Interessant dabei ist, dass ein Kritikpunkt in beiden Fällen übereinstimmt: das Fehlen eines Wahrheitskriteriums. Inwieweit diese Befürchtungen von heute genauso überzogen sind, wie sie es damals waren, wird sich zeigen.
Das führt die Autoren dann zu allgemeineren Überlegungen bezüglich einer literalen Kultur. Sie sehen die Entwicklung einer Demokratie mit dem allgemeinen Alphabetismus verknüpft. Literalität führt ihrer Meinung nach zu einem vereinheitlichten kulturellen Erbe, weit über die Grenzen lokaler und regionaler Sozietäten hinweg. Sie zitieren dazu Sprengler: Die Schrift ist das grosze Symbol der Ferne (Seite 104). Postman (1999) drückt diesen Umstand folgendermaszen aus: Das gedruckte Wort verbindet die Gegenwart mit dem Ewigen. Es trägt die persönliche Identität in unbekannte Weiten der Zeit. Mit Hilfe der Druckerpresse wird es möglich, dass sich die Stimme des Individuums nicht an ein umschriebenes Kollektiv richtet, sondern in alle Zukunft spricht.
Doch obwohl eine literale Kultur die Idee eines intellektuellen und politischen Universalismus nahe legt, ist sie in der Praxis niemals völlig verwirklicht worden. Zwei Gründe sind für diese Diskrepanz ausschlaggebend: die quantitative und die zeitliche Dimension der Literalität. Beides, Menge und historische Tiefe des schriftlichen Materials, ist denjenigen, die die Gesellschaft nach einem einheitlicheren und disziplinierteren Modell umbauen wollten, immer als unüberwindliches Hindernis erschienen (Seite 106). Und weiters: Der Inhalt der kulturellen Tradition wird ständig vermehrt, und sofern er ein bestimmtes Individuum betrifft, wird dieses zu einem Palimpsest aus Schichten von Überzeugungen und Einstellungen, die aus verschiedenen historischen Zeiten stammen (Seite 107). Der Buchdruck hat diese Tendenz nur noch verstärkt.
Das beginnt schon beim Wortschatz. Durch die schriftliche Festlegung einer Sprache vermehrt sich mit der Zeit zwangsläufig auch deren Wortschatz, sodass es für ein Individuum unmöglich wird, den gesamten Sprachschatz zu repräsentieren. Jeder Sprecher ist somit immer nur mit einer Teilkapazität ausgestattet. Die Literalität kennt nämlich kein Vergessen! So ist es zweifellos dieser Mangel an sozialer Amnesie, der Nietzsche dazu geführt hat, „uns Moderne“ als „wandelnde Enzyklopädien“ zu bezeichnen, die unfähig sind, in der Gegenwart zu leben und zu handeln und von einem „historischen Sinn“ besessen sind, „bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur“ (Seite 107).
Doch die Autoren sehen das nicht ganz so krass. Dennoch führen ihrer Meinung nach die demokratischen Schriften zu groszen Unterschieden in der Partizipation an der literalen Kultur. Das kann zu sozialen Spannungen führen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass im sozialen Kontext auch durchwegs noch proliterale Prozesse ablaufen. In den Primärgruppen werden auszerhalb der allgemeinen Literalität mündliche Traditionen weitergeführt, die das Individuum stark prägen und in ihrer ideologischen Tendenz wahrscheinlich weit realistischer und konservativer sind (Seite 109).
Das könnte auch ein weiterer wichtiger Grund dafür sein, das diese Idee der universellen Kultur nicht erreicht wurde. Es entsteht häufig eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen literalen Tradition und den Traditionen der Primärgruppen. Margaret Mead drückt diesen Umstand so aus: In der primitiven Gesellschaft war die Erziehung ein Prozess, durch den Kontinuität zwischen Eltern und Kindern hergestellt und aufrechterhalten wurde (¼) Die moderne Erziehung hat zu einem wesentlichen Teil die Funktion, Diskontinuitäten zu schaffen – das Kind aus einem Analphabeten zu einem Alphabeten zu machen (Seite 109). Oder wie es Berta Phillpotts formuliert: Der Buchdruck hat das Wissen so offensichtlich jedermann zugänglich gemacht, dass wir leicht vergessen, dass er es auch leicht macht, sich dem Wissen zu entziehen¼ (Seite 110).
Der literalen Kultur kann man oder frau sich also sehr viel leichter entziehen als der mündlichen Tradition. Denn: Der Syllogismus lässt die soziale Erfahrung und den unmittelbaren persönlichen Lebenszusammenhang eines Individuums auszer Acht (Seite 110), dennoch sind alle unsere literalen Denkmodi von diesen Formen tief greifend beeinflusst worden (Seite 111). Hier sehen die Autoren den Hauptunterschied zwischen illiteralen und proliteralen Gesellschaften einerseits und literalen andererseits. In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren nochmals auf die logographische Tradition in China und vergleichen das chinesische Denken mit der einer illiteraten Kultur.
Needham (1979) sieht darin jedoch einen Vorteil: In der traditionellen chinesischen Gesellschaft hat es immer einen allgemeinen und wissenschaftlichen Fortschritt gegeben, der jedoch durch das exponenzielle Wachstum der modernen Wissenschaft nach der Renaissance in Europa weit überholt worden ist. (…) Man muss daher der europäischen Gesellschaft innewohnende Instabilität mit dem homöostatischen Gleichgewicht Chinas vergleichen, dem Produkt einer nach meiner Überzeugung sehr viel rationaleren Gesellschaft als die des Westens. Doch dazu später Ausführlicheres.
In der Folge gehen die Autoren auf den Grad der Individuation in den verschiedenen Kulturen ein. Sie verweisen zunächst auf Tolstoi, der dem Bücherwurm jedwede Individualität abspricht. Goody und Watt konstatieren hingegen: insgesamt ist der Grad an Individualität persönlicher Erfahrung in nicht-literalen Kulturen geringer als in literalen (Seite 113). Die kulturelle Tradition ist hier einfach weniger homogen, sodass Personen weitgehend das Resultat ihrer persönlichen Auswahl von Elementen aus dem hoch differenzierten Repertoire der literalen Kultur sind. Sie schlieszen mit der Vermutung an, dass die neuen Kommunikationsmedien wieder zu einer Kultur führen, die weniger individualistisch und homogener ausfällt und sich dem Charakter nach einer illiteralen Gesellschaft angleichen könnte.
Als Nächstes betrachten die Autoren die mechanistische Denkweise der Europäer, die nach Whorf die Übertragung der Grammatik der Sprache auf die Natur darstellt, verfestigt und intensiviert durch Aristoteles und seine mittelalterlichen und modernen Nachfolger (Seite 117). Sie kritisieren an diesem Ansatz, dass er zu wenig auf die Literalität als Ursache für seine festgestellten Unterschiede in den kulturellen Weltbildern bedacht genommen hat. Sie entgegnen mit John Lock: Es ist nicht so, dass Gott den Menschen als zweibeiniges Wesen geschaffen hat und es Aristoteles überlassen hat, sie zu rationalen Geschöpfen zu machen (Seite 118).
Zusammenfassend stellen die Autoren fest: Die neuere Anthropologie hat die kategorischen Unterscheidungen zwischen dem Denken „primitiver“ und „zivilisierter“ Völker und zwischen „mythopoetischen“ und „logisch-empirischen“ Denkweisen mit Recht verworfen. Doch ist die Reaktion zu weit gegangen: diffuser Relativismus und sentimentaler Egalitarismus erzeugen Blindheit gegenüber eigenen sehr grundlegenden Problemen der menschlichen Geschichte (Seite 120). Dem kann ich voll inhaltlich zustimmen. Das Problem der Logizität darf weder mit der Wahrheitsfrage noch mit der besonderen „Weltansicht“ der jeweiligen Sprache verwechselt werden. Relevant ist allein die Struktur des Begriffskomplexes. Hier zeichnen sich primitive Völker oft durch variablere und weniger systematische Wortfelder aus, als wir es in Europa gewohnt sind. Dennoch sind sie entweder taxonomisch oder paradigmatisch strukturiert, unterliegen also denselben Abstraktions- und Identifizierungsverhältnissen. Hamill hat 1978 in Feldstudien nachgewiesen, dass unabhängig von Sprache und Kultur die verbindlichen Regeln des Syllogismus befolgt werden. Auch die einzelnen Mythen haben eine inhärente logische Struktur (Bernhard Streck 1987).
Ich möchte in diesem Zusammenhang Thomas Nagel zitieren (1999): Insofern Sprachpraktiken Denkprinzipien erkennen lassen oder uns Aufschlüsse geben über das Wesen der arithmetischen Sätze, liegt das nicht daran, dass die Logik Grammatik ist, sondern daran, dass Grammatik der Logik gehorcht. Keine „Sprache“, in der der Modus ponens kein logischer Schluss oder die Identität nicht transitiv wäre, könnte benutzt werden, um überhaupt Gedanken zum Ausdruck zu bringen.
Die Autoren sehen den Hauptunterschied darin, dass in der mündlichen Überlieferung ein homöostatischer Prozess des Vergessens und des Umbildens jener Teile der Tradition, die ihre Bedeutsamkeit verlieren, stattfindet, wohingegen die literale Kultur kein vergessen kennt. Das fördert wiederum das historische Bewusstsein und die Skepsis. Weiters meinen sie, dass die logische Form mit der Schrift einhergeht, währendessen das „nicht-logische Denken“ in einer parallel existierenden mündlichen Tradition weitergetragen wird: Denn ohne Zweifel ist die Schrift in den modernen literalen Gesellschaften keine Alternative zur mündlichen Überlieferung, sondern eine zusätzliche Möglichkeit (Seite 122).
Hier zeigt sich meiner Meinung nach, dass die Autoren zwar den Ansatz von Lévy-Bruhl kritisieren, aber ihm dennoch in Grundzügen treu bleiben. Hier werden meiner Meinung nach zwei Bereiche verwechselt: the context of discovery and the context of truth. Wie Überzeugungen und Meinungen in einer Person zu Stande kommen, ist hier wie dort in der Mehrzahl der Fälle nicht mit Logik zu erklären. Doch im Diskurs werden die Argumente überwiegend in eine logische Form gebracht. Denn ein Gegenüber kann ja die Ideen nur verstehen und annehmen, wenn keine offensichtlichen Widersprüche auftreten. Gerade Kinder reagieren auf Widersprüche bekanntlich besonders sensibel. Als Beispiel sei eine Anekdote erzählt: Ein Kind fragt, wodurch Kinder entstehen. Die Eltern antworten, wenn zwei Menschen heiraten, bekommen sie ein Baby. Darauf verweist das Kind auf eine Freundin: Aber warum sind dann Sandys Eltern nicht verheiratet?!
Erwachsene haben es hingegen gelernt, Widersprüche hinzunehmen. In vielen Systemen – vor allem aber in autoritären – muss mit Widersprüchen gelebt werden. So berichtet uns zum Beispiel John Dawson von der Einbürgerung Gödels in Amerika (1999): Der Richter, der Gödel den Eid auf die Verfassung abnahm, beging den Fehler, ihn nach seiner Meinung über den Text zu fragen, und musste sich einen wortreichen Vortrag über dessen Widersprüchlichkeit anhören.
Dass die Ausbildung von formalen Systemen des Schlieszens nicht unbedingt nur auf eine phonetische Schrift zurückgeführt werden kann, beweisen die Nyaya-Sutren in Indien sowie die Schriften des oft mit Aristoteles verglichenen chinesischen Philosophen Mo Ti. Der Nyaya (Regel) ist ein fünfgliedriges Argument:
(1) Der Berg hat Feuer,
(2) Da er Rauch hat.
(3) Was immer Rauch hat, das hat Feuer, wie die Küche.
(4) So auch dieser (Berg).
(5) Deshalb ist er so (d.i. hat er Feuer).
Auf Grund des hierdurch nachgewiesenen Merkmals wird auch ein anderer vom Feuer überzeugt. Die fünf Glieder (avayava) sind Behauptung, Grund, Beispiel, Anwendung und Folgerung. (1) Behauptung (Pratijnâ) ist: „Der Berg hat Feuer“. (2) Grund (hetu) ist: „Da er Rauch hat“. (3) Beispiel (udâharana) ist: „was immer Rauch hat, das hat Feuer, wie die Küche“. (4) Anwendung (upanaya) ist: „So auch dieser“. (5) Folgerung (nigamana) ist: „Deshalb ist er so“ (nach Deussen 1986).
Mo Ti, der etwa im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Sung und Lu lebte, löste eine richtige Logik-Schule aus, die fast mit der Stoa vergleichbar ist: den Mohismus. Da Mo Ti jegliche geistige Autorität ablehnte und nur logische Argumente gelten liesz, geriet er ständig in Konflikt mit dem staatstragenden Konfuzianismus, welcher diese auch sehr sozialkritische Bewegung im zweiten Jahrhundert aCn endgültig ausrottete. Hier einige Zitate aus den logischen Schriften des Mo Ti:
Ohne Norm zu diskutieren ist nichts anderes, als wenn man auf einer sich drehenden Töpferscheibe Morgen und Abend (Ost und West) bestimmen will. Der Unterschied von richtig und falsch, Vorteil und Nachteil kann so nicht klar erkannt werden. Daher müssen beim Diskutieren die drei Methoden Anwendung finden. Welches sind die drei Methoden? Es gibt eine, die sich mit dem Ursprung, eine, die sich mit dem Grunde, und eine, die sich mit der praktischen Anwendung beschäftigt (Geisser 1947).
Nimmt man irgendeinen Gegenstand, um damit etwas zu erklären, so ist das eine Erläuterung. Eine Gleichsetzung liegt vor, wenn man mehrere Sätze in Einklang bringt. Bei einer Folgerung mag jemand sagen: „Wie kommt es, dass du etwas bejahst?“. Ein Analogieschluss liegt vor, wenn man das, was man noch nicht angenommen hat, ebenso wie das, was man annimmt, zugesteht (Kapitel 45, Forke 1922).
Dinge, welche gar nichts miteinander gemein haben und ganz verschiedenen Kategorien angehören, können auch nicht miteinander verglichen werden (Kapitel 41, Forke 1922).
Es hat daher gar keinen Sinn zu fragen: „Was ist länger, ein Raum oder die Naht? Was mehr, der Verstand oder Reis? Was von den vier Dingen: Rang, Eltern, edle Tat, Preis hat höheren Wert?“ (Kapitel 43, Forke 1922).
Die Schwierigkeit des Operierens mit Kategorien wird erklärt durch Gattung und Art (Kapitel 41, Forke 1922).
Der wesentliche Unterschied zu Aristoteles ist, dass sowohl die indischen, als auch die chinesischen Logiker stets bei konkreten Beispielen bleiben und nicht zur Verwendung von Variablen übergehen. Diesen wichtigen Schritt zur abstrakten Formalisierung mag das jeweilige Schriftsystem verhindert haben. Eine phonetische Schrift macht es sicher leichter, ein bedeutungsloses Graphem als Platzhalter für beliebige Gegenstände zu verwenden, wie es Aristoteles tat, da es in anderen Schriftsystemen so gut wie keine bedeutungslosen Grapheme gibt! Umgekehrt haben in Lautschriften die Buchstaben nur selten eine Bedeutung, berühmt ist da vor allem das „waw“ im Arabischen: Das Waw, Hassan, ist der einzige Buchstabe, der eine eigene Bedeutung hat; er ist einzigartig und vielfältig wie Gott. Der Buchstabe des Reisenden. Das Waw (Nacer Khemir 1992).
Hier scheint es angebracht zu erwähnen, dass die semitischen Alphabete ebenfalls Buchstabenschriften und keine Silbenschriften sind. Sie benötigen keine Vokalzeichen, da die Vokale für die Grundbedeutung eines Wortes irrelevant sind. Ein Lexem besteht aus (zumeist drei) Konsonanten, die Radikale genannt werden. Die Vokale dienen der Derivation und haben rein grammatikalische Funktion. Sie werden durch diakritische Zeichen angegeben. Hebräische Rabbiner sprechen daher von den Konsonanten als den Körper und von den Vokalen als der Seele eines Wortes. Frederick Bodmer hat darauf hingewiesen, dass eine genuine Schrift immer auch auf die jeweilige Sprache passt. Das Beispiel, das die Autoren auf Seite 83 angeben hinkt schon deshalb, weil es sich dabei um ein deutsches Paradigma handelt.
Auch das Chinesisch könnte mit lateinischen Buchstaben nur sehr unzulänglich dargestellt werden, da das Chinesische nur so von Homophonen wimmelt. So haben die berühmtberüchtigten vierzig chinesischen „i“ jeweils ein eigenes Zeichen, was das Lesen ungemein erleichtert. Auszerdem besitzt es noch vier bis fünf bedeutungsdifferenzierende Tonqualitäten, die für ein phonetisches System eine besondere Herausforderung darstellen.
Ich möchte mich der Kritik von Kathleen Gough (1968) anschlieszen, die zeigt, dass das Chinesische bei weitem nicht in einer prälogischen Denkverfassung verbleibt. So lieferten die Chinesen einen weitaus eleganteren Beweis für den Satz von Pythagoras (Hogben 1985). Zudem war die Literalität in China immer weit verbreiteter als in vielen Vergleichszeiträumen in Europa! Es gibt Hinweise, dass sich G.W.Leibnitz bei seiner Entwicklung des binären Codes für seine Rechenmaschine von 1673 vom Taoismus inspirieren liesz (Needham 1988). Zur selben Zeit entwickelte Seki Takakazu in Japan Lösungsverfahren für kubische Gleichungen und führte noch vor Leibnitz die Matrizenrechnung ein (Perrin 1996). Hier ist jetzt der richtige Platz, um auf mehrere Aspekte von Schriftlichkeit verweisen, die die Autoren meiner Meinung nach völlig übersehen haben:
1) Die chinesische Schrift erzeugt ein tieferes historisches Empfinden, als zum Beispiel phonetische Schriftsysteme. Die Logogramme vereinen ein Reich, in dem neben vielen nichtsinitischen Sprachen neun sinitische Sprachgruppen existieren (Dialekte nicht mitgerechnet!): Beijinghua (Mandarin), Min Bei (nördliches Min), Min Nan (südliches Min), Keija (Hakka-Chinesisch), Wu, Xiang (Hunanesisch), Yue, Gan und Dungan. Die Schrift war und ist das alleinige und allgemein verständliche Bindeglied. Und diese Konnexität funktioniert nicht nur synchron, sondern auch diachron! Denn Unabhängig von den lautlichen Veränderungen innerhalb der Sprachen, die Schrift bleibt dieselbe. Daher können Chinesen auch alte Meister relativ problemlos lesen. Bei uns ist diese Möglichkeit durch den Lautwandel nicht so ohne weiteres gegeben (Needham 1988).
2) Das chinesische Schriftsystem gleicht in vieler Hinsicht dem Englischem. Die Zeichen setzen sich einfach aus Bestandteilen zusammen und ergeben so ein Wort. Manchmal gibt es Aussprachehinweise, manchmal nicht. Ich denke, die englische Schriftsprache verhält sich hier ziemlich ähnlich. Somit würde das englische Literalität keinen Vorteil gegenüber der chinesischen haben. Der sekundäre Analphabetismus ist ja in den englischsprachigen Regionen immens hoch, genauso wie in China (vgl. griechische Orthographiereform).
3) Die Literalität war in China viel verbreiteter als sie es in Europa zumeist war. Das zeigt sich schon daran, dass bereits in historischer Zeit die Schrift das Straszenbild prägte. In Europa erlangte die Schrift erst in der Neuzeit diese dominante Repräsentation im Alltag, davor waren es Bilder. So waren bei uns Innungszeichen üblich, in China nur die entsprechenden Schriftzeichen! Schrift war in China seit jeher immer auch Dekor, eine Erscheinung, die bei uns auch erst in der Neuzeit mit einer allgemeinen Alphabetisierung auftritt, wenn man von den islamischen Ländern einmal absieht. Als die ersten Portugiesen im 16. Jahrhundert erstmals in Japan landeten, waren die Japaner über diese primitiven Menschen schockiert. So schrieb ein japanischer Chronist: Sie essen mit den Fingern statt mit Essstäbchen, wie wir sie benutzen. Ihre Gefühle zeigen sie ohne jede Selbstzucht. Die Bedeutung des geschriebenen Wortes ist ihnen fremd… (Perrin 1996). Und als 1811 die ersten Russen in Japan auftauchten, berichtet Perrin (1996): Wieder einmal waren die hoch gebildeten Japaner erschüttert über die schlechte westliche Schulbildung. Sie wollten nicht glauben, dass keiner der vier gemeinen Seeleute unter den Gefangenen wenigstens seinen Namen schreiben konnte.
Needham (1979) zeigte, dass es sich bei dieser Fehleinschätzung Chinas um ein althergebrachtes Vorurteil handelt: Dass die Chinesen keinerlei Ansätze, oder gar Äquivalente zur westlichen Wissenschaft entwickelt hätten, ja dass ihnen Wissenschaft als etwas dem Wesen nach Fremdes und zumeist wohl auch Unbegreifliches gelten müsse, gehörte bis noch vor wenigen Jahrzehnten zu den stabilsten Vorurteilen, die in Europa über China verbreitet waren. Dieses Vorurteil konnte auf eine geistesgeschichtliche Tradition zurückblicken, deren Ursprünge ziemlich ausschlieszlich in den Berichten der französischen Jesuitenmissionare des 16. Und 17. Jahrhunderts zu suchen sind. Als Ursache für eine gewisse Stagnation der Wissenschaften im Osten sieht er die Bürokratie: Zum Schluss möchte ich die Vermutung äuszern, dass der asiatische Bürokratismus keineswegs nur für Ostasien charakteristisch ist. Er könnte auch bei der Entwicklung der islamischen Gesellschaft und ihrer Wissenschaft eine entscheidende Rolle gespielt haben. Wie allgemein bekannt, war die arabische Wissenschaft der europäischen um vierhundert Jahre voraus. Allerdings sieht es so aus, als sei die frühe Gesellschaft des Islam eine im Wesentlichen merkantile gewesen. Der Prophet selbst hat die Kaufleute häufig gepriesen, doch nur selten die Bauern, und man könnte die arabischen Städte am Rande der Wüste als Kaufmannszentren betrachten, wobei der Wüste die Rolle des Meeres zukäme. Als aber die Eroberungen einsetzten und das Kalifat von Bagdad errichtet wurde, entstand eine Bewegung zur Organisierung der Herrschaftsmechanismen, die immer stärker auf einen bürokratischen Staat drängte, der eng dem früheren persischen Vorbild glich und dem chinesischen System recht verwandt erschien. Das würde bedeuten, dass die islamische Zivilisation als eine merkantile Kultur anfing und völlig bürokratisiert endete und dass hier vielleicht der Grund für den Niedergang der arabischen Gesellschaft und speziell auch ihrer Wissenschaften und Technologien läge.
Ich sehe in der Demokratisierung der Gesellschaft andere Gründe als die Literalität. Erstens neigen kleine Sozietäten eher zu demokratischeren Spielregeln als grosze Zusammenschlüsse, ganz unabhängig von der Literalität. Schrift und damit verbunden die Herausbildung eines Akrolektes hat ja primär mit Machtkonzentration und Verwaltung zu tun. Eine weitere Triebkraft für eine Liberalisierung der Gesellschaften bilden die Interessen des Handels, der natürlich mit einer Verbreitung von Literalität einhergeht. Ganz allgemein ist es ein historischer Zufall, ob es zu einer Diffusion der Schriftlichkeit in weitere Kreise der Gesellschaft kommt – die Machthaber haben daran in der Regel kein Interesse. Wichtig scheint mir dabei nicht so sehr, wie viele Menschen in einer Gesellschaft nun Lesen oder gar Schreiben können, sondern dass die Schrift in allen gesellschaftlichen Schichten Fusz fasst und nicht auf eine priviligierte Klasse von Schreibern beschränkt bleibt. Hier hat eine Lautschrift sicher einen groszen Vorteil, der aber nicht überbewertet werden darf. Die politische Auseinandersetzung um die deutsche Rechtschreibreform zeigt deutlich, dass es immer noch Bestrebungen gibt, die Schriftlichkeit zu einem elitären Handwerk zu machen.
Auch in Indien muss die Literalität im dritten Jahrhundert aCn relativ umfassend gewesen sein, ansonsten hätte es keinen Sinn gemacht, dass Ashoka überall im Land seine programmatischen Texte auf Steinsäulen und Felswände meiszeln liesz (Freydank et al.).
Mir scheint, die Autoren wollten zeigen, dass ein phonetische Schriftsystem sich automatisch verbreitet und somit zwangsläufig zu einer Demokratisierung der Gesellschaft führt:
Wenn (Phonetisches Schriftsystem), dann (Verbreitung der Schriftlichkeit).
Wenn (Verbreitung der Schriftlichkeit), dann (Demokratisierung).
Ergo: Wenn (Phonetisches Schriftsystem), dann (Demokratisierung). (Modus ponens)
Dies scheint mir nicht gerechtfertigt. Zwar ist die Schriftlichkeit in komplexen Gesellschaften eine notwendige Voraussetzung für die Demokratie, aber keine hinreichende! Ich halte vor allem die erste Prämisse für falsch. Nichts weist darauf hin, dass ein phonetisches Schriftsystem sich automatisch ausbreitet. Das lateinische Alphabet überzog das westliche Europa zum Beispiel auf Grund des Hegemonieanspruchs der römisch-katholischen Kirche, die sekundär Latein als Kirchensprache einführte. Gleichzeitig behielt sie sich ein Monopol auf die Schriftlichkeit vor, die erst mit der Renaissance gebrochen wurde. Im Osten entwarfen die Missionare für die Völker eigene Lautschriften, die sie dann den Menschen beibrachten (z.B. Ulfila-Bibel, Glagoliza und Kyrillika). Der Grund für dieses Engagement war die Verbreitung der Heiligen Schrift, die sie auch immer gleich übersetzten. Es handelt sich bei der Argumentationsweise der Autoren um eine Art von Historismus, sie wollen gesellschaftliche Gesetzmäszigkeiten ableiten. Mir scheint dieser Anspruch überzogen.
Worin die Autoren sicher Recht haben, ist der Umstand, dass mit dem Einzug der Literalität in eine Gesellschaft deren Komplexität mächtig steigt. Das hat natürlich auch einen Einfluss auf das kollektive Weltbild. Ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein ist sicher nicht ohne schriftliche Dokumente denkbar.
Zum Abschluss möchte ich als Gedankenanstosz noch eine Unterscheidung von Edward Wilson anführen (1998): Heutzutage verläuft die Wasserscheide, welche die Menschheit trennt, allerdings nicht mehr zwischen Rassen und Religionen, oder, wie allgemein behauptet wird, sogar zwischen Gebildeten und Analphabeten. Heute scheidet sie vielmehr wissenschaftliche von vorwissenschaftlichen Kulturen. Solche, die nicht über die Instrumente und das akkumulierende Wissen der Naturwissenschaften – Physik, Chemie und Biologie – verfügen, sind im Karzer ihrer eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit gefangen. Sie sind wie intelligente Fische, die in einem tiefen, dunklen Gewässer geboren wurden. Unruhig und sehnsüchtig fragen sie sich, wie die Welt drauszen wohl aussieht. Sie ergehen sich in wilden Spekulationen und erfinden kunstvolle Mythen über die Ursprünge ihres Elements, über die der Sonne, des Himmels, der Sterne, und über den Sinn ihres eigenen Daseins. Aber sie liegen falsch, immer liegen sie falsch, weil die materielle Realität zu entrückt von den alltäglichen Erfahrungen ist, als dass die blosze Vorstellungskraft ausreichte, sie zu erfassen.
Literatur:
Baier, Wilhelm Richard: Diktyagogik – Bildung mit und ohne Netz. In: Wilhelm Filla (Hg.): Magazin für Erwachsenenbildung. Heft 193. 9—12. Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien 1999.
Bodmer, Frederick: Die Sprachen der Welt. Geschichte – Grammatik – Wortschatz in vergleichender Darstellung. 58—67. Kiepenhauer und Witsch, Köln und Berlin.
Dawson, John W.: Kurt Gödel und die Grenzen der Logik. In: Spektrum der Wissenschaft, Heft 9/99. 74—79. Spektrum Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1999.
Deussen, Paul, in: Helmuth Glasenapp: Indische Geisteswelt, Band II. 174—175 (Logik). Werner Dausien, Hanau 1986.
Forke, Alfred: Mê Ti – Des Sozialethikers und seiner Schüler Werke. Kommissionsverlag der vereinigten wissenschaftlichen Verleger, Berlin 1922.
Freydank, Helmut, Walter F. Reineke, Maria Schetelich, Thomas Thilo: Erklärendes Wörterbuch zur Kultur und Kunst des Alten Orients. Ägypten – Vorderasien – Indien – Ostasien. 48—49 (Aschoka). Werner Dausien, Hanau.
Geisser, Franz: Das Prinzip der allgemeinen Menschenliebe im Reformprogramm Mo Ti’s und seine Schule und seine Aufnahme in China und Europa. Dissertation an der Universität Zürich. Gebrüder Oberholzer, Uznach 1947.
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Hogben, Lancelot: Mathematik für alle. Einführung in die Wissenschaft der Zahlen und Figuren. 44—45. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1985.
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