Thursday, February 22, 2001

Gerechtigkeit

Im Gorgias 470d—479e behandelt Platon alias Aristokles (1973) die Frage nach der Ge­rechtigkeit. Dabei lasst er Sokrates gegen Polos in ein Streitgespräch treten. Polos vertritt die These, dass ungerechte Menschen – wie bespielsweise der Tyrann Arche­laos – sehr wohl glücklich sein könnten. Sokrates widerspricht dem heftig und hält dagegen, dass, wer rechtschaffen und gut ist, auch glückselig sei, dass aber, wer ungerecht und böse ist, eben elend sei. In der Folge bringt er Polos dazu, dem zuzu­stimmen, indem er nach platonischer Manier das Schöne mit dem Guten und das Hässliche mit dem Bösen gleichsetzt. Damit folgt er ganz dem klassisch-ritterlichen Ideal der Kalokagaqia: alles, was gut ist, ist auch schön und umgekehrt. Zum Schluss gipfelt seine Argumentation in der Aussage, dass Unrecht tun schlechter als Unrecht leiden sei und dass Bestrafung eine Art von Heilkur für die Seele sei: Die Erwerbsam­keit also befreit von der Armut, die Heilkraft von der Krankheit, die Anwendung der Gerechtigkeit von der Unbändigkeit der Ungerechtigkeit (478b). Daher ist für ihn auch das Ungestraftsein das größte aller Übel.
Im Gegensatz dazu geht Thomas Nagel (1990) bei der Behandlung der Frage nach der Gerechtigkeit vom Ideal der Chancengleichheit aus. Gerechtigkeit ist für ihn vor allem ein sozioökonomisches Problem und nicht unbedingt eine Frage der Ethik. Bei ihm kommt auch nicht das Begriffspaar „gut“ und „schlecht“ (wie bei Platon 1973) zum Tragen, sondern er hängt seine Interpretation von Gerechtigkeit am Fairnessbegriff auf. Seine Fragen lauten daher: Welche Arten von Ursachen der Ungleichheit sind unrecht? Und: Welche Methoden des Eingreifens in die Ungleichheit sind legitim? (p68). Glück be­deutet ihm hier Freisein von Mangel und Benachteiligung. Insofern scheint ihm hier die Frage, was ein moralisch gutes Leben ist und ob es zu Glückseligkeit führt, neben­sächlich zu sein. Dieser Frage geht er eher im Kapitel über „Recht und Unrecht“ nach, auch wenn er hier wieder einen eher gesellschaftsbezogenen Standpunkt einnimmt. Dabei sucht er einerseits nach einer allgemein gültigen Grundlegung der Ethik, die er am ehesten in der Goldenen Regel erblickt, andererseits zeigt er auch die Relativität und Situationsgebundenheit von ethischen Handlungen auf.
Der Hauptunterschied in der Interpretation von Gerechtigkeit zwischen Platon (1973) und Nagel (1990) liegt wohl darin, dass Platon die Gerechtigkeit von einem ethischen Blickwinkel aus betrachtet, während Nagel die sozioökonomischen Möglichkeiten und Beschränkungen des Individuums im Auge hat. Bei Platon setzt Gerechtigkeit daher beim Individuum an, während sie bei Nagel die Gesellschaft als Ganzes betrifft.
Für Platon (1973), der das Schöne mit dem Guten gleichsetzt, geht die Glückseeligkeit immer mit der Gerechtigkeit einher. Und Ungerechtigkeit ensteht für ihn nur aus einem Mangel an Wissen, denn der Wissende ist immer gerecht, da er natürlich nur nach bestem Wissen handelt und dadurch in Glückseligkeit lebt. Das erinnert sehr stark an den Ge­rechtigkeitsbegriff im Buddhismus, wo Fehlverhalten in Bezug auf sein Kharma auch immer mit Nichtwissen einhergeht. Der Wissende ist fehlerlos. Interessanterweise steht hinter beiden Weltsichten der Reinkarnationsgedanke. Es wäre interessant zu prüfen, ob diese Kongruenz auf den hellenistischen Einfluss in Indien durch die Seleuki­den­­herrschaft zurückzuführen ist, oder ob es sich nur um eine Koinzidenz handelt. Der umgekehrte Fluss der Gedanken erscheint mir unwahrscheinlich.
Die Argumentation des Sokrates in Gorgias ist nur dann zwingend, wenn man seiner Begriffsbestimmung folgt. Vor allem die idealistische Gleichsetzung von Gut und Schön stützt seine Argumentation. Wenn man die Frage nach dem, was das Gute bezie­hungs­weise das Schöne eigentlich sein soll, beiseite lässt, und die Begriffe nur intuitiv – aus dem Alltagsgebrauch heraus – erfasst, so zeigt sich rasch aus Erfahrung, dass das Gute mit dem Schönen nicht deckungsgleich ist. Oft wird zwar etwas Schönes auch mit dem Wort „gut“ bedacht, dennoch gibt es oft genug auch Hässliches, dass sich als gut erweist. Und umgekehrt gibt es auch Schönes, dass sich als schlecht entpuppt. Wenn man also dieser Gleichsetzung nicht zustimmt, verliert seine Beweiskette an Folge­richtigkeit. Andere Einwände empfinde ich als weniger stringent, so wirkt der Hinweis auf chronische Erkrankungen in Bezug auf seinen Vergleich mit Heilverfahren dadurch nicht entkräftigend, weil Platon chronische Leiden nicht als solche erkannt hätte – für ihn war Krankheit immer auch heilbar. Nach dem Benevolenzprinzip darf man ihm dieses Unwissen seiner Zeit nicht vorwerfen.
In gewisser Weise stellt Platon ein individuiertes Bild der Gerechtigkeit auf, dass an liberale Auffassungen erinnert: Solange die Menschen nichts Unrechtes tun, sind auch Ungleichheit und soziale Nachteile gerechtfertigt. Nagel hält das für nicht fair. Auch ich bin eher der Meinung, dass Untätigkeit genauso ungerecht sein kann, wenn es den Fortbestand von Unrecht perpetuiert. Ein Mensch kann ein Leben lang persönlich nichts Unrechtes tun und dennoch systemisch eine ungerechten Status prolongieren.
Womit ich mehr anfangen kann, ist der Hinweis auf die Nützlichkeit von Gerechtigkeit. Auch Nagel (1990) scheint einen konkreten Nutzen im Auge zu haben, wenn er in diesem Zusammenhang von Chancengleichheit und Fairness spricht. Der Nutzen ist zwar nicht immer unmittelbarer und persönlicher Art, doch scheint uns klar zu sein, dass niemand gerne in einer Welt leben möchte, in der man ständig vor Übergriffen durch seine Mit­menschen auf der Hut sein muss und sich auf absolut niemanden verlassen kann. Wir verlassen uns ständig auf andere – auch auf uns völlig fremde Menschen. Ethik hat somit eine gesellschaftliche Funktion und ist daher auch gesellschaftlich relavant.
Wenn Gerechtigkeit nur um ihrer selbst willen erstrebt werden soll, dann braucht sie auch keine Rechtfertigung, sondern sie stellt einen Grundwert für sich dar. Das scheint aber insofern recht fragwürdig, weil dann auch klar sein müsste, worin dieser Grundwert besteht beziehungsweise was Gerechtigkeit ist. Leider gehen hier die Meinungen sehr auseinander – wie sich schon an den beiden zu vergleichenden Texten von Platon (1973) und Nagel (1990) zeigen. Was der eine für gerecht hält, ist für den anderen ungerecht. Daher kann es kein unumstrittener Grundwert sein, sondern bedarf einer Begründung, die zu­min­dest mit einer breiten Zustimmung rechnen darf.
Ich glaube, es ist sogar unerlässlich, auf eine gewisse Weise auf die Nützlichkeit von ethischem Verhalten zu rekurrieren, denn wie sonst sollte man Ethik rechtfertigen? Wenn man nicht auf empirisch kontrollierbare Konsequenzen von ethischen For­de­run­gen Bezug nimmt – und ein wesentlicher scheint mir da der gesellschaftliche Nutzen von Ethik zu sein – dann bleibt die Grundlegung der Ethik metaphysisch. Ethik muss immer auch praktikabel sein, also hat sie auch praktische Auswirkungen, die zutiefst relevant für die Rechtfertigung von ethischen Normen sind.
Auch die Goldene Regel – oder mit Kant (1961) zu sprechen: der Kategorische Im­pe­rativ – scheint mir grundsätzlich annehmbar. Allerdings ist zu bedenken, dass ein solcher Imperativ nicht immer unmittelbar anzuwenden ist. Wie auch Nagel (1990) gezeigt hat, gibt es immer wieder Situationen, in denen eine unmittelbare Anwendung des Impera­tivs mehr Leiden erzeugt als verhindert. Sture Grundsatzreiterei kann manch­mal zu ethisch fragwürdigen Ergebnissen führen, wie auch David Hume (1984) bereits gezeigt hat. Ethisches Handeln hat stets mit Abwägung zu tun, auch wenn man die Goldene Regel immer im Hinterkopf haben sollte. Ein wichtiges Moment ist für Hume dabei die Empathie. Bei der Ethik geht es immer auch um die Konse­quenzen des eigenen Handelns für den anderen.
Hier taucht für mich ein wichtiges Wort in Bezug auf ethische Grundlegung auf: Leid. Ethisches Verhalten hat doch wohl offensichtlich den Sinn, leidvolle Situationen in einer Gesellschaft zu vermeiden beziehungsweise zu minimieren – oder sie überhaupt aus der Welt zu schaffen. Hierin sehe ich eigentlich den Hauptgrund für Ethik.
Das Hauptproblem bei der Behandlung von ethischen Fragen ist ein logisches. Norma­lerweise sind wir gewohnt, Aussagen für wahr oder falsch zu halten. Allerdings versagt diese Kategorisierung bei ethischen Aussagen, die immer einen normativen Charakter besitzen. Sie sind daher keine Feststellungen über die Natur der Dinge, sondern super­naturale Vorschriften, die unabhängig von ihrer Erfüllung ihre Berechtigung haben kön­nen. Das heißt, auch wenn eine ethische Forderung niemals erfüllt wird, kann sie in einem gewissen Sinne „wahr“ sein, wenn man dieses Wort hier überhaupt noch ver­wen­den möchte. Das ist bei assertorischen Sätzen undenkbar, denn wenn das Gesagte nicht zutrifft, ist die Aussage eindeutig falsch! Daher ergibt sich die Frage, wie man norma­tive Sätze logisch handhaben soll und ob man in diesem Zusammenhang über­haupt noch von „Wahrheit“ und „Falschheit“ sprechen kann. Die Deontiker versuchen diesem Problem Herr zu werden, indem sie intensionale Logiksysteme konstruieren. Allerdings wird hier vornehmlich geprüft, ob sich zwischen verschiedenen ethischen Forderungen Widersprüche ergeben oder nicht. Das ist zwar für eine grundlegende Rechtfertigung einer Ethik zu wenig, aber dennoch ein wichtiges Indiz für die An­nehm­barkeit eines ethischen Systems. Denn sich widersprechende Forderungen sind nie­mals erfüllbar, auch mit besten Absichten nicht, somit ist ein solches System un­brauch­bar.
David Hume (1984) hat bereits darauf hingewiesen, dass es nicht möglich ist, von Ge­gebenheiten auf ethische Forderungen zu schließen. Wenn das eine mit der Wahrheit und Falschheit von Aussagen zu tun hat, so hat das andere damit der zu tun, ob ethi­sche Forderungen gerechtfertigt sind, egal ob sie eingehalten werden oder nicht. Daher ist es immer suspekt, wenn man sich bei der Begründung von Ethik auf natür­liche Ge­gebenheiten beruft. Die Begründung von Ethik muss in ihren empirischen Folgen liegen und nicht in den natürlichen Vorgaben.
Hans Kelsen und andere gingen daher den Weg eines positiven Rechtsverständnisses: Recht ist, was durch eine legitimierte Instanz als Recht gesetzt wurde. Mir scheint diese Rechts­auffassung, die gegenwärtig in der Jurisprudenz vorherrschend ist, sehr frag­wür­dig. Es muss noch etwas Allgemeineres geben, um ein Gesetz zu rechtfertigen, denn sonst sind Gesetze nicht mehr kritisierbar.
Die letzte Frage – nach der Sinnhaftigkeit von Strafe – ist eine schwierige. Einerseits ist zu sagen, wenn Strafe nur eine Art Racheakt darstellt, so ist sie mehr als fragwürdig. Wenn sie allerdings auf einen Ausgleich beziehungsweise auf eine Wiedergut­machung ab­zielt, halte ich sie für gerechtfertigt. Dennoch gibt es Strafen, die als Regu­la­tiv uner­läss­lich erscheinen. Zum Beispiel gibt es in Österreich generell Geschwindig­keits­be­schrän­kun­gen auf Straßen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. All zu oft werden sie nicht eingehalten. Die Androhung von Geldstrafen – zum Beispiel über Radar­über­wachung – wirkt hier oft Wunder. Gefängnisstrafen halte ich im Großen und Gan­zen für entbehrlich, außer es handelt sich um gemeingefährliche Täter. Hier hat die Gesell­schaft ein legitimes Schutzbedürfnis, und da ich die Todesstrafe keinesfalls für ak­zep­tabel halte, bleibt nur die Haft als gesellschaftliche Notwehr. Ich bin nämlich nicht der Meinung, dass eine Staatsgewalt sich selbst etwas erlauben darf, was sie den Bür­gern untersagt. Da das vorsätzliche Töten eines Menschen durch einen Menschen aus begreiflichen Gründen untersagt ist, darf meiner Meinung nach auch keine Institu­tion (also jede juristische Person) einen Menschen willentlich töten. Ich sehe nicht ein, wieso hier ein Unter­schied gemacht wird, er ist nicht zu rechtfertigen.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass es in Österreich das Rechtsprinzip der „Sittenwidrigkeit“ gibt, der auf die gängigen moralischen Vorstellungen Bezug nimmt, die nicht gesetzlich kodifiziert sind. So kann ein Vertrag zwischen zwei Personen deshalb für ungültig erklärt werden, weil er den guten Sitten zuwider läuft. Er ist sitten­widrig. Natürlich ist das Ermessenssache und bezieht sich immer nur auf einen gegen­wärtig gültigen Korpus von Moralvorstellungen. Die Jurisprudenz unterstellt demnach einen „Common Sense“ in Bezug darauf, was sittlich ist.
Ähnlich wie Nietzsche (1988) betrachtet auch Genet die Ethik als soziale Gewohnheit (nach Edmund White 1993, p446): Ich bin vor allem am Charakter der moralischen Wirklichkeit interessiert, und ich versuche, mir einen frischen Blick auf alles zu bewah­ren. Indem ich Klischees systematisch verwerfe, vermeide ich es, in soziale Gewohn­heiten zurückzufallen. Beide entlarven zwar erfolgreich die gängigen Moral­vorstellun­gen, bieten aber in Wirklichkeit keine Alternativen an.



Literatur:
Hume, David. 1984: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Mit einer Einleitung von Gerhard Streminger. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek 8231 [4]), 304.
Kant, Immanuel. 1961: Kritik der praktischen Vernunft. Herausgegeben von Joachim Kopper. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek 1111 [3]), 272.
Nagel, Thomas. 1990: Was bedeutet das alles?. Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek 8637), 88.
Nietzsche, Friedrich. 1988: Zur Genealogie der Moral. Mit einem Nachwort von Volker Gerhardt. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek 7123), 188.
Platon. 1973: Gorgias. In: Wilhelm Nestle [Hg.]: Platon. Hauptwerke. Stuttgart: Alfred Kröner (Kröners Taschenbuchausgabe 69), 17—54.
White, Edmund. 1993: Jean Genet. Biographie. München: Kindler, 878.

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