Wednesday, June 15, 2011

Moral Landscape

Die moralische Landschaft ist ein Gebiet, das Gipfel und Täler aufweist, ein Bergauf und Bergab. Es ist kein fester Ort, in der es nur eine Lösung für moralische Fragen gibt, sondern eine Region, die mehrere optimierte Möglichkeiten offen lässt. Allerdings gibt es „bessere“ und „schlechtere“ Lösungen. Die besseren führen in die Höhe, die schlechteren in die Depression. Das ist das Bild, das Sam Harris in seinem Buch „The Moral Landscape“ zeichnet. Und dieses Bild nimmt er als Grundlage, um im Weiteren zu untersuchen, welche Moralvorstellungen somit „besser“ als andere sind. Es geht ihm um ein Kriterium, dass uns zeigen kann, welche Wege wir als Individuen und Gesellschaft einschlagen und welche wir meiden sollten. Denn es gibt Wege, die objektiv das Wohlergehen und die Blüte einer Gesellschaft und deren Individuen fördern, und solche, die das Gegenteil bewirken. Mit seinem Buch wendet sich Harris gegen den ethischen Relativismus, auch wenn er zugibt, dass es mehr als eine Lösung geben mag. Aber er schränkt ein, dass es Lösungen gibt, die nicht zielführend sind, da sie sich negativ auf die Gesellschaft auswirken und somit eine Blüte verhindern. Darum ist es nicht egal, welchen moralischen Doktrinen wir Gehör schenken. Sie müssen zuerst geprüft werden, geprüft auf ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Und nach Harris ist das letzten Endes eine wissenschaftlich-empirische Frage.
Es geht Harris also darum, den ethischen Relativismus zu beseitigen, der zurzeit so „en vogue“ ist. Mit vielen Beispielen führt er die undifferenzierte Gleichbehandlung aller Wertesysteme ad absurdum. Wenn es Werte gibt, dann kann man sie auch vergleichen und auf ihre Tauglichkeit hin prüfen. Das Schlüsselzitat dafür stammt von Donald Symons: If only one person in the world held down a terrified, struggling, screaming little girl, cut off her genitals with a septic blade, and sewed her back up, leaving only a tiny hole for urine and menstrual flow, the only question would be how severely that person should be punished, and whether the death penalty would be a sufficiently severe sanction. But when millions of people do this, instead of the enormity being magnified million-fold, suddenly it becomes “culture”, and thereby magically becomes less, rather than more, horrible, and is even defended by some Western “moral thinkers”, including feminists.
Die Sache verhält sich analog zur Medizin: Auch hier lässt sich nicht wirklich eindeutig sagen, was die Gesundheit eigentlich ist, außer vielleicht negativ als Abwesenheit von Krankheit. Dennoch lässt sich in praxi feststellen, was ihr förderlich ist und was ihr schadet.
Da Harris neben Philosophie an der Stanford University vor allem auch Neurologie an der UCLA studiert hat, fließen immer wieder auch neuropsychologische Betrachtungen in sein Buch ein. So beschäftigt sich ein eigener Abschnitt mit Psychopathen, um den Zusammenhang von Gehirn und Bewusstsein zu erläutern. Zwangsläufig muss er sich in diesem Zusammenhang auch mit dem freien Willen auseinandersetzen. Trotz seiner berechtigten Skepsis wendet er sich strikt gegen jeden Fatalismus: The freedom to do what one intends, and not to do otherwise, is no less valuable than it ever was. Die Verantwortlichkeit für unsere Taten ergibt sich daher aus den Absichten, die wir verfolgen: What we condemn in another person is the intention to do harm... Die Verantwortung bleibt.
Ein großes Kapitel widmet sich der Religionskritik. Hier schießt er gelegentlich etwas über das eigentliches Ziel hinaus. Die Religionskritik ist sicher berechtigt, nur haben die Beispiele manchmal wenig mit dem Thema des Buches zu tun, nämlich die Begründung, dass auch Moralphilosophie eine empirische Basis braucht. Die Entscheidung für „besser“ oder „schlechter“ liegt in der Wirklichkeit (als Wirkungsgefüge) begründet. Religionen können höchstens als Gegenbeispiele dienen, da sie sich prinzipiell der Prüfung widersetzen.
Sam Harris Buch ist ein Versuch, die Moral wieder in die Welt der erleb- und prüfbaren Tatsachen zurück zu holen, aus der sie sich seit der Aufklärung immer mehr verabschiedet hat. Er geht dabei ganz neue Wege, die absolut beachtenswert sind. Inwieweit sein kluges Konzept aufgeht, wird die weitere Forschung zeigen.


Sam Harris
The Moral Landscape
Free Press, New York 2010
US$ 18,-

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