Sorites: Das Haufenparadoxon
Der Sorites – oder auch Haufen-Paradoxon –
gehört zu den klassischen Problemen der Logik. Der Begriff selbst leitet sich
vom griechischen Wort σωρος für „Haufen“ ab. Es handelt sich dabei um einen
Kettenschluss, der – auf einen vagen Begriff wie eben „Haufen“ angewandt –
offenbar keinen Sinn ergibt bzw. zu einem Widerspruch führt. Wer das
Haufenparadox zuerst formuliert hat, ist umstritten. Zumeist wird Zenon von
Elea genannt. Es ist aber anzunehmen, dass das Paradoxon in mündlicher
Überlieferung wesentlich älter ist.
Man kann den Sorites progressiv (1) oder
regressiv (2) anwenden:
(1)
Ein Sandkorn macht noch keinen
Haufen. Zwei Sandkörner machen noch keinen Haufen. Drei Sandkörner machen noch
keinen Haufen u.s.w.
Ergo: Beliebig viele Sandkörner machen keinen Haufen!
Ergo: Beliebig viele Sandkörner machen keinen Haufen!
(2)
Ein Haufen, dem ein Sandkorn
genommen wird, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem zwei Sandkörner
genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem drei Sandkörner
genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen u.s.w.
Ergo: Ein Haufen, dem alle Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen!
Ergo: Ein Haufen, dem alle Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen!
Offensichtlich führen beide Kettenschlüsse
zu Widersprüchen. Wo liegt also das Problem bzw. der Fehlschluss?
Eine Möglichkeit, die Paradoxie zu umgehen,
besteht darin, eine genaue Definition anzubieten, ab wie vielen Sandkörnern man
von einem Haufen sprechen kann. Das Problem verlagert sich jetzt aber nur, denn
es ist unmöglich, eine bestimmte Zahl anzugeben. Die Grenzziehung ist immer
willkürlich und daher nicht stringent, also strittig. Dennoch wird genau diese
Strategie in der Wissenschaft häufig angewendet, um vage Begriffe zu
eliminieren. Aus pragmatischer Sicht kann das also durchaus sinnvoll sein,
sofern man sich in der „scientific community“ auf eine allgemein anerkannte
Definition einigen kann, um mit den nun exakten – wenn auch arbiträren –
Begriffen in der Folge wissenschaftlich arbeiten zu können. Doch logisch ist
diese rein pragmatische Lösung dennoch unbefriedigend.
Eine sehr spitzfindige Lösung stammt von
Ludwig Wittgenstein. Er geht davon aus, dass der Begriff Haufen in der
Alltagssprache immer nur dann zur Anwendung kommt, wenn man nicht in der Lage
ist, die Zahl der Elemente anzugeben. Sobald man jedoch eine genaue Zahl
angibt, kann man nicht mehr von einem Haufen sprechen, da das Wort dann
inadäquat ist, weil es impliziert, dass es sich um eine unklare Anzahl von
Elementen handelt. Prima facie wirkt das Argument einleuchtend, aber löst es das
Problem mit dem Kettenschluss wirklich? Mir scheint, das Argument ist nur in
der deutschen Sprache anwendbar, da hier „Haufen“ zwei semantische Verwendungen
hat: einerseits als Bezeichnung für ein physisches Gebilde (Phänomen) und
andererseits als unbestimmtes Zahlwort (umgangssprachlich: ein Haufen Fragen).
Wittgenstein vermischt in seinem Argument beide Semantiken.
Ein weiterer Ansatz ist, dass man schon
einem einzelnen Sandkorn die Eigenschaft des Haufens zuerkennt. Damit wäre zwar
der logische Widerspruch beseitigt, aber der Ansatz ist extrem kontraintuitiv
und daher sehr unbefriedigend, wenn auch formal möglich.
Mehrwertige Logiksysteme – und insbesondere
die Fuzzylogic – lösen scheinbar das Sorites-Problem, aber dafür handelt man
sich viele andere formale Probleme ein. Somit ist nicht ganz klar, ob der
Ansatz wirklich zielführend ist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass man, um die
Fuzzylogic zu formulieren, erst wieder auf die klassische zweiwertige Logik als
Metalogik zurückgreifen muss. Sie scheint daher die grundlegendere Logik zu
sein. Die Fuzzylogik kann also nur als Erweiterung oder Ergänzung dieser für
Spezialanwendungen betrachtet werden und keinen Universalanspruch erheben.
Mein Zugang zu diesem Problem ist nun folgender:
Ein Haufen ist nicht durch die Anzahl der Elemente definiert, sondern durch
deren Anordnung. Es handelt sich somit um eine Ansammlung von Elementen auf
einem begrenzten Raum. Daher ist klar: durch Vermehrung der Sandkörner entsteht
nicht zwangsläufig ein Haufen. Diese zusätzliche Eigenschaft der Assoziation
steckt nicht im Sandkorn, sondern in der Raumzeit. Ich kann beliebig viele
Sandkörner gleichmäßig im Universum verteilen – damit vermeide ich die
Entstehung eines Haufens. Der Haufen ist ein Emergenz, die erst durch eine
bestimmte raumzeitliche Anordnung der Sandkörner entsteht, so wie eine Wolke
aus Wasserdampf entstehen kann (aber nicht muss), oder wie sich ein
Vogelschwarm bildet, wenn sich gewisse Singvögel plötzlich in Großgruppen auf
Wanderschaft begeben.
Somit kann man logisch nicht ableiten, ab
wann aus Elementen ein Haufen entsteht bzw. wann sich ein Haufen auflöst, weil
es sich nicht um eine Eigenschaft seiner Elemente handelt, sondern um eine
Eigenschaft der raumzeitlichen Verteilung. Oder anders ausgedrückt: Das Ganze kann
mehr sein als die Summe seiner Teile. Die Eigenschaft des Haufens „emergiert“
aus den Elementen erst durch eine bestimmte rumzeitliche Assoziation. Diese
Eigenschaft hat daher primär nichts mit dem Eigenschaften der Elemente zu tun,
sondern ist ein Ergebnis einer großen Zahl, die unter Umständen eine bestimmte raumzeitliche
Beziehung zueinander haben kann.
Die Eigenschaft des Haufens kann also nicht
auf das einzelne Sandkorn angewendet werden und auch nicht umgekehrt. Daraus
ergibt sich, dass der Kettenschluss (1) formallogisch gültig ist, da sich aus
den Eigenschaften der Sandkörner nicht ableiten lässt, wann oder ob eventuell ein
Haufen entsteht. Das ist eine unabhängige Eigenschaft, die nichts mit dem
einzelnen Sandkorn zu tun hat. Die Eigenschaft des Haufens kommt nur unter
bestimmten Rahmenbedingungen hinzu. Erst unter gewissen Umständen emergiert sozusagen
ein Haufen aus einer Vielzahl von Elementen.
Beim regressiven Kettenschluss (2) bleibt
also, nachdem hier argumentativ vom vagen Begriff „Haufen“ ausgegangen wird,
das Polylemma, wann sich der Haufen auflöst. Dass er es tut, ist evident,
allerdings lässt sich dafür kein exakter Punkt angeben. Das ist ein logisches
Problem, das grundsätzlich allen vagen Begriffen inne wohnt.
Vagheit führt zu prinzipiellen Problemen. Vage
Begriffe wie Haufen, Schwarm, Wolke, Berg etc. lassen sich nicht eindeutig
definieren oder abgrenzen. Offensichtlich brauchen wir für unsere Kommunikation
dringend vage Begriffe, da in dieser Welt vieles uneindeutig und im Fluss ist.
Es gibt selten klare Grenzen, Übergänge sind stets fließend, der Essenzialismus
ist eine Illusion.
Mein Lösungsansatz für den Sorites lautet
also wie folgt: Die Sandkörner haben logisch nichts mit dem Haufen gemein, da sich
der Begriff „Haufen“ nur auf eine bestimmte raumzeitliche Anordnung von
beliebigen Elementen bezieht. Das hat keinerlei Einfluss auf die Elemente
selbst. Daher ist die logische Verknüpfung vom Begriff „Haufen“ und seinen
Elementen logisch nicht statthaft. Das Phänomen „Haufen“ ist eine Emergenz, die
primär nichts mit seinen Elementen zu tun hat. Die Eigenschaft „Haufen zu sein“
ist völlig unabhängig von den Eigenschaften seiner Elemente.
Conclusio: Der Kettenschluss (1) ist gültig, weil sich aus der Vielzahl von
Sandkörnern nicht zwangsläufig ein Haufen bildet. Der Kettenschluss (2) ist
nicht gültig, weil bei der Prädikation keine semantischen Gemeinsamkeiten vorhanden
sind, die logisch verknüpft werden könnten. Somit sind bereits die Prämissen
unzulässig, weil sich das Phänomen „Haufen“ auf die raumzeitliche Konstellation
bezieht und daher nichts mit den spezifischen Eigenschaften oder einer
bestimmten Anzahl der einzelnen Elemente zu tun hat bzw. nicht auf diese zurück
wirkt oder aus diesen abgeleitet werden kann.
Literatur:
Ulrich Pardey: Unscharfe Grenzen. Über die
Haufen-Paradoxie, den Darwinismus und die rekursive Grammatik, Journal for
General Philosophy of Science 12-2002, Volume 33, Issue 2, Springer, Berlin
2002, S. 323–348.
Richard M. Sainsbury: Paradoxien.
Übersetzung von Vincent C. Müller, Reclam, Stuttgart 1993, 2. Aufl. 2001, S. 39–72.
Timothy
Williamson: Vagueness. Routledge, London 1998.
William
Poundstone: Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiter kommt. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt,
Reinbeck 1992.
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