Weltenlos? Kritik an einer Weltleugnung.
Mit
dem 23. Juni 2011 soll ein neues Zeitalter eingeläutet worden sein, der so
genannte „Neue Realismus“, der die Postmoderne ablösen will. Mit seinem Buch
„Warum es die Welt nicht gibt“ versucht Markus Gabriel diesen „neuen“ („alten“)
Weltzugang zu erläutern. Er konstatiert: „Der Konstruktivismus ist absurd, er
wird meist aber nicht durchschaut.“
Während
der Postmodernismus die Welt als Konstrukt der menschlichen Sinne und
Interessen sieht, und sich über eine vermeintlich dahinterliegende Wirklichkeit
enthält (Epoché) oder sie gar leugnet, erklärt der Neue Realismus hingegen alles
für wirklich: die Welt, wie wir sie sehen, und die Welt, wie sie ist. Alles ist
wirklich, alles existiert: „Wie meine linke Hand mir erscheint, ist genauso
real wie meine linke Hand selbst.“ Es gibt somit viele Welten oder „Sinnfelder“
(so nennt Gabriel Sinnzusammenhänge), aber eben nicht die eine, alles
umfassende Welt.
Interessant
an Gabriels Ansatz ist, dass er versucht, eine Brücke zwischen subjektiver
Weltsicht und objektiver Wirklichkeit zu schlagen. Für ihn ist beides wirklich
und daher vorhanden, wenn auch in anderen „Sinnfeldern“. Somit vervielfachen
sich seine realen Objekte ins Unermessliche. Darum gibt es auch nichts, das
alles enthalten kann. Jeder Gedanke über die Welt ist wieder nur ein Objekt in
der Welt. Hier argumentiert er in gewisser Weise analog zu Russels Typentheorie
(es gibt keine Menge, die alle Mengen und zugleich auch sich selbst enthält). Dennoch
macht er Aussagen über die Welt, indem er einerseits Martin Heidegger zitiert
(„Die Welt ist der Bereich aller Bereiche.“) und sie andererseits negiert: die
Welt als Gesamtheit gibt es eben nicht gibt. Offenbar will er damit ausdrücken,
dass der Bereich aller Bereiche überabzählbar unendlich und daher nicht
umfassend darstellbar ist. Einen solchen Supergegenstand, der wirklich alles
umfasst, kann es darum nicht geben: „Der Ausdruck »alles« bezieht sich auf
nichts Bestimmtes.“ Dennoch plädiert er für eine „formale Weltunterstellung“,
um Kohärenz herstellen zu können.
Die
Leugnung der Welt ist eine Sache; zu sagen, dass man über sie nicht sinnvoll
sprechen kann, eine andere. Erinnert sei
hier an das Bonmot von Ludwig Wittgenstein: „Was sich überhaupt sagen lässt,
lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man
schweigen.“ Vielleich sollte man sich auch seinen folgenden Ausspruch
vergegenwärtigen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“
Nach
eigenem Ermessen kommt Gabriel ohne jede Metaphysik aus, die er in der Reflexion
über das Weltganze verortet. Allerdings betreibt er Ontologie, eine klassisches
Terrain der Metaphysik, nicht aber für Gabriel. Ohne Ontologie kommt er nicht
aus, denn er muss die Dinge und Tatsachen, die die Welt ausmachen, Sinnfeldern
zuordnen. Alles Seiende existiert ja nur in einem bestimmten Sinnfeld: „Der
Gedanke an Schnee und Schnee gehören schlicht
zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen an.“
Zugleich
versucht er mithilfe einer ontologischen Reduktion nachzuweisen, dass gewisse
Diskurse inhaltsleer (ergo „Geschwätz“) sind. Er nennt das „Irrtumstheorie“.
Allerdings räumt er ein, dass auch das Geschwätz Teil der Wirklichkeit ist und
somit existiert, wenn eben auch nur als Geschwätz: „Falsche Gedanken
existieren, aber die Gegenstände, von denen sie handeln, kommen nicht in dem
Feld vor, in dem falsche Gedanken sie verorten.“
Um
seinen ontologischen Pluralismus zu verteidigen, wendet Gabriel sich gegen die
formale Logik, derzufolge Existenz offenbar immer auch mit Zählbarkeit zu tun
hat (zumindest ist die formale Logik dadurch ontologisch neutral, denn der
Existenzquantor nimmt keinen Bezug auf irgendwelche Seinsweisen). Für Gabriel
sind Sinnfelder mehr als nur formal beschreibbare Mengen. Er greift dabei auf
Freges Sinnbegriff zurück und versucht zu zeigen, dass je nach Sinnfeld der
nämliche Gegenstand als etwas ganz anderes in Erscheinung treten kann, z.B. als
physikalisches Objekt, als Kunstwerk, als Bedrohung, als Wertgegenstand etc.:
„Der Sinn ist die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“ Existenzaussagen sind für
Gabriel immer nur in Bezug auf ein Sinnfeld berechtigt: „Existenzaussagen,
seien sie positiv oder negativ, beziehen sich immer nur auf ein Sinnfeld oder
einige Sinnfelder, niemals aber auf alle und am allerwenigsten auf ein
allumfassendes Sinnfeld.“
Für
Gabriel gibt es unendlich viele Sinnfelder mit unterschiedlichsten
Eigenschaften. Die Frage, welche Sinnfelder es konkret gibt und wie sie
beschaffe sind, ist seiner Meinung nach aber eine empirische zu beantwortende. Er
bezieht hier aber die Geisteswissenschaften mit ein. Jedenfalls ist für ihn die
Welt erkennbar, wenn auch von einem menschlichen Standpunkt aus. Für ihn gibt
es kein „Ding an sich“, einen unerkennbaren Träger der Eigenschaften, sondern
die Eigenschaften selbst sind die Konstituenten der Dinge. Andererseits gibt es
auch keinen neutralen Beobachtungsort, da die Erscheinungen immer auch in einem
Kontext stehen, in dem der Mensch miteingebunden ist. Meiner Meinung nach ist das
Metaphysik.
Letztendlich
ist Gabriel ein Platonist, der an real existierenden Universalien festhält (und
das angeblich ohne Metaphysik!). Das wird besonders deutlich, wenn er sich
gegen den Nominalismus („Namen sind Schall und Rauch“) wendet. Für ihn gibt es
vorhandene Strukturen, die wir begrifflich nachzeichnen. Sein Realismus ist die
allgemeine Behauptung, dass es universale Strukturen gibt. Seine doppelte These
lautet, „dass wir erstens Dinge und Tatsachen an sich erkennen können und dass
zweitens Dinge und Tatsachen an sich nicht einem einzigen Gegenstandsbereich
angehören.“ Das ist zumindest ein Standpunkt. Ob er hält, ist fraglich.
Eigenartig ist nur, dass er sich gegen die Aufklärung wendet, der er explizit
vorwirft, die Welt sinnentleert zu haben. Was er dabei übersieht, ist, dass die
Aufklärung die Welt zwar in gewissem Sinne entzaubert, aber zugleich den Mensch
mit nüchternem Blick wieder ins Zentrum gestellt hat (man denke zum Beispiel an
die Menschenrechte: Der Mensch dient nicht einem höheren Wesen, sondern sich
und den Mitmenschen; und der Antrieb für diese Entmythifizierung und
Zurechtrückung ist der Nominalismus). Namen (als phonetische Gebilde oder
Symbole) sind aber unbestreitbar willkürlich, die Proposition dahinter vielleicht
nicht (oder zumindest nicht immer). Interessant ist in diesem Zusammenhang sein
Kapitel über „Sider-Welten“, indem er versucht zu zeigen, dass konstruierte
„Querbegriffe“ unsinnig sind.
Wider
seinen Anspruch, gegen die Aufklärung zu sein, greift er aber doch ein altes
Sujet der Aufklärung auf, nämlich die Ideologiekritik (auch wenn er sie die Kritik
an Weltbildern nennt). Das ist eindeutig eine aufklärerische Tugend.
Befremdet
hat mich insbesondere, dass er die Theologie als Wissenschaft verteidigt. Er
gesteht zwar ein, dass es kein höchstes Wesen und keinen Schöpfer geben kann
(hier argumentiert er analog zu seinem Argument wider die Weltexistenz),
dennoch rechtfertigt er die Theologie als sinnstiftendes und tröstendes Unternehmen.
Zugleich wirft er dem wissenschaftlichen Weltbild Fetischismus vor, ein
Vorwurf, der eher Religionen trifft. Wenn ein wissenschaftliches Weltbild, das
sicher nur eines unter vielen sein kann, fetischhaft sein sollte, wäre
Wissenschaft starr und unwandelbar. Aber Wissenschaft verändert sich ständig in
Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen. Sie ist kein starres Lehrgebäude,
wie z.B. die Homöopathie, und schon gar kein Weltbild. Aber zumindest räumt er
ein: „Sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Weltbild sind falsch,
sofern es sich um Weltbilder handelt.“ Und: „Religion ist das Gegenteil einer
Welterklärung.“
Es
gäbe sicher noch viel zu diesem Buch (er äußert sich u.a. noch zu Kunst und
Kultur) zu sagen, aber ich möchte es hiermit belassen, vor allem, weil ich in
diesen Bereichen nicht wirklich firm bin. Ungewöhnlich sind auch seine
Bezugnahmen auf Kinofilme und TV-Serien (obwohl ich letztere als TV-Verweigerer
nicht kenne und daher seine Anspielungen nicht immer verstehe). Die „Science
Busters“ (www.sciencebusters.at) scheinen ihm jedenfalls unbekannt zu sein. Insgesamt
überzeugt seine Darstellung nicht, obwohl er viele interessante philosophische
Probleme anreißt. Wirklich neu erscheint mir sein Platonismus (der ja
schließlich auf Platon alias Aristokles, also ca. 400 Jahre vor unserer
Zeitrechnung, zurückgeht) auch nicht zu sein.
Markus Gabriel:
Warum es die Welt nicht gibt.
Ullstein, Berlin 2013
Warum es die Welt nicht gibt.
Ullstein, Berlin 2013
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