Briefe an einen jungen Forscher
In seiner kleinen Schrift „Briefe an einen
jungen Wissenschaftler“ versucht der Harvard-Professor Edward O. Wilson –
untergliedert in fünf thematische Abschnitte – mit kurzen und unabhängig zu
lesenden Aufsätzen (Briefen) einen Leitfaden für eine wissenschaftliche
Karriere zu geben. Seine fünf Generalthemen, unter die er seine Briefe
einordnet, lauten dabei: Der Weg, dem man folgen muss – Der kreative Prozess –
Ein Leben für die Wissenschaft – Theorie und großes Bild – Wahrheit und Ethik.
Im ersten thematischen Abschnitt, der den
Werdegang eines Wissenschaftlers beleuchtet, geht es ihm vor allem um die
persönliche Leidenschaft, die für den Erfolg in einer Wissenschaftsdisziplin
unerlässlich ist. Leidenschaftliche Arbeit ist wichtiger als das
wissenschaftliche Training für den Erfolg. Auch mathematische Talente sind in
vielen Bereichen entbehrlich. Pioniere der Wissenschaft haben selten ihre
Erkenntnisse aus der Mathematik bezogen. Falls man für seine Forschungen auch Mathematik
braucht, soll man sich eben an Fachleute wenden. Speziell in den
Biowissenschaften ist die Mathematik wenig fruchtbringend, weil die relevanten
Faktoren des wirklichen Lebens häufig entweder missverstanden oder nicht
erkannt bzw. übersehen werden. Außerdem gibt es fast in jeder wissenschaftlichen
Disziplin mindestens einen Bereich, in denen man auch ohne Mathematik
exzellente Leistungen erbringen kann. Wichtiger ist es, eine Nische zu finden,
in der man zum Spezialisten aufsteigen kann. Jedes wissenschaftliche Problem
bietet eine Chance. Je größer das Problem, umso besser! Jedenfalls ist es immer
besser, sich abseits vom Mainstream zu bewegen.
Im Abschnitt, der den kreativen Prozess
behandelt, geht Wilson zuerst der Frage nach, was Wissenschaft eigentlich ist.
Für ihn ist es das organisierte und testbare Wissen von der Welt im Gegensatz
zu den unzähligen Meinungen, die sich von Mythen und Aberglauben nähren. Für
ihn übertrifft die wissenschaftliche Methode in der Erklärungskraft jedenfalls
jeden religiösen Glauben in Bezug auf Ursprung und Sinn des menschlichen
Lebens. Daher ist es für jeden Wissenschaftler essenziell, sich darauf zu
besinnen, dass es um die Erforschung der realen Welt geht, und nicht um die
Bestätigung von vorgegebenen Meinungen oder Trugbildern. Nur prüfbare Fakten
zählen in der Wissenschaft. Wenn die Forschungsergebnisse korrekt und stimmig
sind, werden sie auf Dauer jede Ideologie und jeden politischen Widerstand
überwinden. Ein idealer Wissenschaftler denkt wie ein Poet und arbeitet wie ein
Buchhalter. Das garantiert nachhaltige Ergebnisse. Die äußersten Grenzen der
Wissenschaft kann man aber nur erreichen, wenn man auch die Landkarten kennt,
die die früheren Forscher bereits gezeichnet haben. Um aber ein neues
Terrainabzuklopfen, können kleine unkontrollierte Experimente sehr hilfreich
sein, nur um zu sehen, ob sich etwas Interessantes auftut. Neue Technologien
können dabei nützlich sein, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden (Liebe
sie also nicht!). Wichtig ist aber vor allem, sich selbst treu zu bleiben.
Ein Leben für und in der Wissenschaft sieht
für Wilson folgendermaßen aus: Immer gut ist es, wenn man einen Mentor findet. Also
gehe man auf die Suche. Von daher ist es schon angebracht, nicht unbedingt mit
dem Strom zu schwimmen. Außerdem sollte man sich in seinem Wahlgebiet gut
auskennen. Auch in der modernen Biologie sind dabei gute Kenntnisse in
Taxonomie und Systematik unerlässlich. Dann versuche man das Unmögliche, um
etwas Außergewöhnliches zu erreichen.
Im Abschnitt „Theorie und das große Bild“
stellt Wilson fest, dass das Leben auf der Erde noch weitgehend unbekannt ist,
sodass es ein leichtes ist, ein Forscher zu sein, ohne seine Umgebung unbedingt
verlassen zu müssen. Wir suchen nach Mustern, die erkennbar werden, wenn sich
die Puzzle-Teile zusammen fügen. Wenn so ein Muster entdeckt wird, nutzen wir
es als Arbeitshilfe, um neue Untersuchungsansätze zu kreieren. Wenn die neuen
Methoden nicht gut greifen, müssen sie besser adaptiert werden. Greifen sie gar
nicht oder ergeben sich Widersprüche, so muss man eben nach neuen Mustern
Ausschau halten. In jedem Fall erzeugt eine wissenschaftliche Antwort immer auch
wieder neue Fragen. Hier zitiert er Newton: „If you see further than others, it
is by standing on the shoulders of giants.“ Jedenfalls können Ambition und
unternehmerischer Geist häufig fehlende Brillianz ersetzen.
Wahrheit und Ethik gehören für Wilson offensichtlich
zusammen. Im letzten Abschnitt beleuchtet er den wissenschaftlichen Ethos. Die
oberste Maxime für jeden Wissenschaftler ist für ihn die Verfolgung der Wahrheit.
Wissen an sich ist niemals negativ zu sehen, aber was man damit anfängt – die
Anwendung von Wissen – kann durchaus verderblich sein, insbesondere wenn sie
für ideologische Zwecke missbraucht wird. Daher gibt es für ihn keinen großen
Wissenschaftler, der ganz allein für sich in einer verborgenen Kammer arbeitet.
Austausch und voneinander Lernen gehören für ihn stets dazu.
Mit seiner Anleitung für eine
wissenschaftliche Karriere will Wilson jungen Wissenschaftlern etwas aus seinem
reichen Erfahrungsschatz als Starthilfe mit auf den Weg geben. Das ist ihm mit
diesem Büchlein sicher auch gelungen. Man kann nur hoffen, dass es auch von
jungen Menschen gelesen wird, um ihnen den Einstieg in die Wissenschaft zu
erleichtern und Anregungen für die persönliche Karriereplanung zu geben. Im
Studium hört man solche Dinge kaum – ich wäre froh gewesen, hätte es so ein
Handbuch schon zu meiner Zeit gegeben.
Letters To A Young Scientist
Edward O. Wilson
Liveright Publishing Cooperation, New York
2013
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