Wednesday, October 23, 2013

Die soziale Eroberung der Erde

Edward O. Wilson, der Doyen der Evolutionsbiologie und leidenschaftlicher Ameisenforscher, hat mit seinem neuen Buch für große Aufregung unter den Evolutionsbiologen gesorgt. Galt er doch bis jetzt als Galionsfigur der Kin-Selection (Verwandten-Selektion) unter den Soziobiologen. Doch nun hat er sich explizit vom egoistischen Gen verabschiedet und sich wieder der klassischen Evolutionstheorie zugewandt. In seinem Werk „The Social Conquest Of The Earth“ versucht er zu zeigen, dass die klassische Evolutionstheorie völlig ausreicht, um Phänomene wie soziale Lebensformen und altruistisches Verhalten zu erklären, währenddessen die Kin-Selection hier eher Probleme aufwirft als sie zu lösen. Vor allem bei den Termiten scheint das Modell zu versagen. Bei geklonten Organismen – mit der höchsten Verwandtschaftsrate  von 100% – hat man aber bisher interessanterweise noch keinen einzigen Fall von Eusozialität festgestellt.

Wenn man von einer Selektion auf verschiedenen Ebenen ausgeht (multilevel selection), dann ergibt sich unter bestimmten Voraussetzungen, dass die Selektion nicht mehr nur beim Individuum angreift, sondern auch bei der Gruppe, die mit anderen Gruppen um Ressourcen und Lebensräume konkurriert. Somit überlagert dann – abhängig von geeigneten Rahmenbedingungen – die Gruppenselektion die individuelle Selektion. Das Ergebnis ist die Entwicklung von Verhaltensweisen, die die Gruppe gegenüber anderen Gruppen fitter macht, wie Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung, Kooperation und Kommunikation. Und dieses Verhalten geht über bloße Verwandtschaftsverhältnisse weit hinaus und kann im Extremfall sogar die persönliche Fitness einschränken.

Während nach Wilson die Kin-Selection nur auf wenige Spezialfälle angewendet und daher nicht generalisiert werden kann, ist die klassische Standard-Theorie der Evolution offenbar in der Lage, alle Fälle abzudecken. In einigen Fällen sind beide Erklärungsmodelle gleichwertig, doch meistens verliert sich die Kin-Selection in unnötigen Abstraktionen, sodass sie an Relevanz und Unmittelbarkeit einbüßt. Sie zäumt das Pferd von der falschen Seite auf, indem sie von einem hypothetischen Rechenmodell ausgeht, und dieses über die biotischen Phänomene stülpt, anstatt von den Beobachtungen auszugehen, um einen passenden Algorithmus dafür zu entwickeln.

Die natürliche Selektion ist in der Regel mehrstufig: Sie wirkt auf Gene, die die biologische Organisation in mehr als nur einer Ebene bestimmen. Es geht dabei um das Verhältnis von Zelle zu Organismus oder von Organismus zu Kolonie. Das extremste Beispiel für die Selektion auf mehreren Ebenen ist ein Tumor. Krebszellen entziehen sich in ihrem Wachstum den Beschränkungen der höheren Organisationsstufe, sodass der Organismus stirbt. Gelingt ihm jedoch die Kontrolle, bleibt er am Leben.

Den Schlüssel zur „conditio humana“  findet Wilson nicht in der Evolution des Menschen, sondern schon viel früher – bereits bei der Entstehung von sozialem Verhalten im Tierreich. Allerdings liegt darin auch ein Problem, denn komplexe soziale Systeme sind selten. Wenn sie sich aber einmal etabliert haben, scheinen die Vorteile gewaltig zu sein. So überflügeln staatenbildende Insekten andere Kerbtiere in Anzahl, Biomasse und Einfluss auf ihre Umwelt gewaltig.

Der Ursprung der Eusozialität im Tierreich scheint vor allem mit dem Vorhandensein von einem Nest gekoppelt zu sein. Beim Menschen war es vermutlich die Feuerstelle. Zuerst kommt die Brutpflege, dann ein behütetes Nest, später bleiben plötzlich mehrere Generationen im Nest und beginnen mit Arbeitsteilung – auch in Hinblick auf die Fortpflanzung. Evolutiv nötig ist dafür primär nur eine einzige Mutation, nämlich der Ausfall des Gens, das für die Nestflucht (die Auswanderung der neuen Generation) verantwortlich zeichnet. So entwickeln sich soziale Gruppen, die mit anderen Gruppen wetteifern, wodurch ein evolutionärer Druck auch auf die Gruppe als Gesamtheit entsteht.

Das bisherige Modell geht davon aus, dass die Kin-Selection Gruppen zusammenschweißt, weil sie mehr oder weniger miteinander verwandt sind. Wilson widerspricht dem, indem er ausführt, dass staatenbildende Insekten evolutionär als Superorganismen funktionieren. Alle Individuen des Staates sind phänotypische Extensionen der Königin wie die Zellen eines Körpers, sodass die Evolution nur bei ihr angreift. Die genetischen Differenzen zwischen den Individuen einer Kolonie sind sogar ein Vorteil, denn sie bilden einen Schutz vor epidemischen Krankheiten. Ein klassisches Evolutionsmodell, das ohne Verwandtschaftsmathematik auskommt. Schon Darwin deutete in The Origin of Species an, dass Selektion wahrscheinlich auch bei Gruppen angreifen kann.

Mit der Entstehung von Arbeitsteilung scheint der Punkt ohne Wiederkehr erreicht zu sein; ab hier gibt es offenbar kein Zurück mehr. Die Eusozialität ist nun stabil: wir stehen zusammen oder wir fallen zusammen.

In Kolonien, die sich aus unterschiedlichen, authentischen Individuen zusammensetzen – und nicht aus phänotypischen Extensionen einer Königin – fördert die Selektion selbstsüchtiges Verhalten. Auf der anderen Seite fördert die Gruppenselektion – wenn mehrere Gruppen in Konkurrenz zueinander stehen – den Altruismus unter den Gruppenmitgliedern. In diesem Spannungsverhältnis steht auch der Mensch.

Allerdings kann die menschliche Natur weder auf die Gene reduziert werden, noch können alle kulturellen Universalien mit ihrer Hilfe erklärt werden. Sie beruht vielmehr auf epigenetischen Regeln. Daher ist der Großteil des Verhaltens von Menschen nicht wie ein Reflex fest verdrahtet, sondern erlernt, auch wenn der Mensch darauf genetisch „vorbereitet“ ist. Als Folge ergibt sich die „Gen-Kultur-Koevolution“. Das bedeutet nicht, dass der Mensch völlig frei von seiner natürlichen Basis ist, aber die möglichen Freiheitsgrade haben sich vervielfacht. Zugleich drängt die kulturelle Evolution  zweifellos die genetische Evolution in den Hintergrund. Trotzdem gibt es dabei plastische und unplastische Elemente: Keine zwei Personen haben die gleichen Fingerabdrücke. Im Gegensatz dazu schreiben die Gene immer exakt fünf Finger vor.

Wilsons Kulturbegriff lässt sich in folgendem Satz zusammenfassen: Eine kulturelle Eigenheit ist ein Verhalten, dass entweder in einer Gruppe entwickelt oder von einer anderen Gruppe übernommen wird, um sie dann in der eigenen Gruppe zu pflegen und weiterzugeben. Das psychische Innenleben macht den Menschen aber einmalig und besonders: Stirbt ein Mensch, geht ein ganzer Kosmos verloren.

Doch was war die treibende Kraft für die Entwicklung der menschlichen Kultur? Laut Wilson war es die Gruppenselektion. Gruppen, deren Mitglieder die Intentionen anderer erahnen konnten und bereit zur Kooperation waren, hatten einen enormen evolutiven Vorteil gegenüber anderen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Wie bereits Darwin vermutete, passen Sprache und ihre basalen Mechanismen deshalb so gut zusammen, weil sich die Sprache dem menschlichen Gehirn anpasste, und nicht umgekehrt. Für Wilson sind es die Feinheiten der Gen-Kultur-Koevolution, die uns ein fundamentales Verständnis der „conditio humana“ liefern können.

Ein Dilemma, das aus der Evolution auf mehreren Ebenen ergibt, spiegelt sich in den Begriffen „gut“ und „böse“ wider.  Individuelle Selektion und Gruppenselektion greifen beide prinzipiell auch beim Einzelwesen an, treiben aber in entgegengesetzte Richtungen. Daraus ergibt sich die eiserne Regel in der sozialen Evolution: Eigennützige Individuen setzten sich gegenüber uneigennützigen durch, währenddessen altruistische Gruppen sich gegenüber Assoziationen von selbstsüchtigen Eigenbrötlern behaupten. Wenn in der menschlichen Evolution die Gruppenselektion dominiert hätte, würden unsere Gesellschaften Insektenkolonien gleichen. Aber der Mensch ist auch kein „homo oeconomicus“, der ausschließlich auf den eigenen Nutzen fixiert ist.

Verwandtenselektion ist nach Wilson nicht der Schlüssel für die evolutionäre Dynamik hin zur Eusozialität. Was wirklich zählt, ist eine natürliche (sprich ererbte) Neigung Allianzen und Netzwerke zu bilden, Informationen auszutauschen, aber auch Verrat zu üben.

Ernst Fehr und Simon Gächter haben das Problem 2002 wie folgt umrissen: „Menschliche Kooperation ist ein evolutionäres Rätsel. Anders als alle anderen Lebewesen kooperieren Menschen häufig mit genetisch nicht verwandten Fremden, häufig in großen Gruppen, mit Menschen, denen sie nie wieder begegnen werden, und selbst wenn der Gewinn in Hinsicht auf Fortpflanzung gering ausfällt oder ganz fehlt. Als Erklärung für diese Kooperationsmuster taugen weder die Evolutionstheorie der Verwandtenselektion noch die egoistischen Motive, die mit der Zeichentheorie oder der Theorie des reziproken Altruismus assoziiert werden.“

Wilson wirft in seinem aktuellen Buch Fragen auf, die lange Zeit als Tabu galten. Einigen geht er sicher zu weit, wenn er Kunst, Kultur und Ethik, aber auch die Religion (Zitat: Religiöser Glaube ist die unbemerkte Falle, die in der biologischen Geschichte unserer Art unvermeidbar ist. […] Die Menschheit verdient besseres.) von der Perspektive der Evolutionstheorie aus beleuchtet, aber das ist meiner Meinung nach durchaus legitim.

Immerhin versucht er Lösungen anzubieten, indem er auf altbewährte Modelle zurückgreift. Damit hat er international Empörung in der „science community“ der Soziobiologen ausgelöst. Wie immer man zu seinen Aussagen stehen mag, eines zeichnet sich immer klarer ab: die gängigen Evolutionsmodelle greifen zu kurz, sie erfassen nicht die ganze belebte Wirklichkeit. So lassen sie sich auf viele Phänomene der Natur nur eingeschränkt anwenden. Zudem tauchen immer wieder Instanzen auf, die die Verwandtenselektionstheorie explizit ausschließt. Nicht, dass ich der Meinung wäre, dass jede negative Instanz eine Theorie automatisch obsolet macht, das wäre unpragmatisch “das Kind mit dem Bade ausschütten“. Eine Widerlegung ist auch nicht immer eindeutig. Wenn sich aber die Widersprüche gegenüber der Empirie häufen, sollte man sich doch Gedanken machen. Insofern ist das Buch Wilsons eine wichtige Anregung, um sich mit Problemen und Lösungsansätzen der Evolutionsbiologie neu und unvoreingenommen auseinander zu setzen. Das letzte Wort ist hier sicher nicht gesprochen.
 
 
 
 
Edward O. Wilson
The Social Conquest Of The Earth
Liveright Publishing Corporation
New York and London, 2012
 
 
 

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