Friday, January 22, 1999

Poppers Wahrheitsnähe

Die Poppersche Theorie der Wahrheitsnähe klingt aufs erste sehr plausi­bel und entspricht unserem Alltagsverständnis. Bei genauerer Betrach­tung ergeben sich aber durchaus Schwierigkeiten. So äußerte sich Willard Van Orman Quine (1960) äußerst skeptisch über das Konzept der Annäherung an die Wahrheit. Und Pavel Tichý (1976) hat eine for­male Widerlegung des quantitativen Begriffs Wahrheitsnähe geliefert (siehe unten). Mir scheint, der Begriff der Wahrheitsnähe läßt sich nur dann präzisieren, wenn eine mehrwertige Logik vorausgesetzt wird. Denn was soll es heißen, eine Theorie ist näher an der Wahrheit als eine andere? Doch wohl, daß ihr Wahrheitswert höher ist. Ansonsten ergibt das Ganze keinen Sinn, da eine Theorie, die ungefähr stimmt, gemäß der binären Logik einfach nur falsch ist!
Nun setzt aber Popper eine binäre Logik voraus. Ich zitiere aus „Auf der Suche nach einer besseren Welt“, Seite 13:
1. Jede unzweideutig formulierte Aussage ist entweder wahr oder falsch; und wenn sie falsch ist, dann ist ihre Negation wahr.
2. Es gibt ebensoviel wahre wie falsche Aussagen.
3. Jede solche unzweideutige Aussage (auch wenn wir nicht mit Sicher­heit wissen, ob sie wahr ist) ist entweder wahr, oder ihre Negation ist wahr. Auch daraus folgt, daß es verkehrt ist, die Wahrheit mit der siche­ren oder gewissen Wahrheit gleichzusetzen. Wahrheit und Ge­wiß­heit müssen scharf unterschieden werden.
Ich glaube, hier liegt der Haken in Poppers Argumentation. Er kann eigentlich nicht präzisieren, wie seine Wahrheitsnähe zu bewerten ist. Sie fällt somit aus seinem logischen Diskurs heraus! Das ist vor allem deswegen erstaunlich, da er sich auch als logischer Atomist bekennt, das heißt, der Wahrheitswert einer Theorie setzt sich für ihn aus dem Wahrheitswert seiner atomaren Sätze zusammen. Dennoch bewertet er Theorien scheinbar irgendwie anders, obwohl er von Wahrheit spricht.
Ich möchte hier nun die Widerlegung Tichýs ausführen, um daran einige Überlegungen anzuschließen. Ich halte mich dabei an die Vorlesung „Der Nutzen formaler Methoden“ von Reinhard Kamitz vom 22. Oktober 1992.
Poppers Begriff der Wahrheitsnähe läßt sich kurz durch zwei Bedingun­gen charakterisieren. Eine Theorie Q1 ist genau dann der Wahrheit näher als die Theorie Q2, wenn gilt:
1) Aus Q1 folgt mehr Wahres, aber nicht zugleich auch mehr Falsches als aus Q2.
2) Aus Q1 folgt weniger Falsches, aber nicht zugleich auch weniger Wah­res als aus Q2.
Das heißt, die Folgerungsmenge von Q1 enthält entweder mehr wahre, oder aber weniger falsche Sätze als die Folgerungsmenge von Q2. Sinn­voll ist natürlich nur ein Vergleich von Theorien, die denselben Gegen­stand betreffen, also zum Teil gleichlautende Propositionen enthalten. Es ist sicher nicht sinnvoll, Theorien aus völlig unabhängigen Gebieten mit­einander in bezug auf die Wahrheitsnähe zu untersuchen. Daher lassen sich die beiden Behauptungen folgendermaßen mengentheoretisch for­ma­­­li­sieren, wobei W(Qn) die Menge der wahren und F(Qn) die Menge der falschen Sätze der Theorie Qn sind:
1) W(Q1) > W(Q2) & ~(F(Q1) > F(Q2))
2) F(Q1) < q1 =" {P," q2 =" {P}" q1 =" {P," q2 =" {Q," q1 =" {Q}" q2 =" {Q," q1 =" {P," q2 =" {Q," q1 =" {P," q2 =" {Q," q1 =" {Q," q2 =" {Q," q1 =" {Q," q2 =" {~R,"> ~S. Damit ist ~S ebenfalls in Q1 enthalten, was einen Widerspruch darstellt. Daher ist der Fall z ebenfalls nicht möglich.
Alle anderen Fälle funktionieren analog! Der einzige Fall, der dem Pop­perschen Kriterium entspricht, ist der Fall a. Scheinbar ist es nur dann sinnvoll, von größerer Wahrheitsnähe zu sprechen, wenn beide Theorien wahr sind, eine jedoch mehr wahre Sätze enthält als die andere (zumin­dest in der binären Logik). Sobald aber irgendwelche Sätze als falsch bewertet werden, ergibt sich ein Widerspruch! Mir kommt dabei der stoische Lehrsatz in den Sinn: ex falso quodlibet sequitur. Aus falschen Sätzen folgen wahre oder falsche (bzw. wahre Sätze lassen sich aus beliebigen Sätzen gewinnen).
Wird eine zweiwertige Logik zugrunde gelegt, erscheint es gleichgültig, ob eine Theorie mehr oder weniger fal­sche Sätze enthält. Sobald sie einen falschen Satz beinhaltet, kann sie als absolut falsch klassifiziert werden. Das funktioniert analog zur Bewer­tung von atomaren Sätzen. Auch hier gibt es nicht mehr oder weniger falsch, sondern jeder auch nur annähernd falsche Satz ist als absolut falsch zu beurteilen (tertium non datur!). Und genau diese Haltung liegt der Popperschen Philosophie zugrunde (siehe obiges Zitat!). Damit scheint seine Theorie der Wahr­heitsnähe außerhalb des logischen Diskurses angesiedelt zu sein und ist somit irrational. Popper wendet sich aber immer deutlich gegen jede Irrationalität. Ich zitiere aus „Auf der Suche nach einer besseren Welt“, Seite 11: Wir leben in einer Zeit, in der wieder einmal der Irrationalismus Mode geworden ist.
Dennoch scheint uns der Alltagsverstand den Begriff der Wahrheitsnähe nahezulegen. Popper tritt zwar für einen Realismus ein, wendet sich aber vehe­ment gegen die Erkenntnis­theorie des Alltagsverstandes. Ich ver­weise hier nur auf das Kapitel 2/13 in seinem Buch „Objektive Erkennt­nis“. An Mehrwertigkeit ist laut Popper ebenfalls nicht zu denken (siehe oben). Auch holistische Ansätze, die seine Theorie eventuell retten könnten, verwirft er. Damit ist Kohärenz als Kriterium für Wahrheitsnähe ausgeschlossen. Ich zitiere aus „Alles Leben ist Problemlösen“, Seite 48: Zweitens werde ich die These ver­tre­ten, daß Wissenschaftler, wie immer sie philosophisch zum Holismus ein­gestellt sein mögen, den Reduk­tio­nis­mus als Methode begrüßen müs­sen…
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Popper einer Lösung des An­satzes der Wahrheitsnähe selbst im Wege steht. Ich weiß nicht, ob Mehr­wertig­keit oder Kohärenz das Konzept der Wahrheitsnähe retten könnten (was mir durchaus als möglich erschiene), doch läßt Popper beide Vari­an­ten nicht gelten. Dennoch hält er aus mir unverständlichen Gründen an sei­nem Konzept fest. Im zweiten Anhang seines Buches „Objektive Erkennt­nis“ geht er auf die Kritik an seiner Idee der Wahrheitsnähe ein. Er ver­gleicht das Ptolemäische Weltbild mit dem Kopernikanischen. Er geht davon aus, daß das Kopernikanische System besser geeignet ist, die Welt zu beschreiben, als das Ptolemäische. Doch seit der Ko­perni­ka­ni­­schen Wende wissen wir, daß das Geozentrische Weltbild nicht ein­fach schlech­­ter war, sondern schlichtweg falsch. Es war unmöglich, auf­grund dieser Theo­rie die Bewegungen der Himmelskörper exakt vor­her­zusagen. Natürlich, ungefähr stimmten die Vorhersagen, doch ein biss­chen falsch ist einfach falsch (tertium non datur!). Anders ver­hält es sich mit der Newtonschen Mechanik und der Relativitätstheorie. Die New­ton­sche Mechanik erwies sich nicht als grundsätzlich falsch, nur ihre All­ge­meingültigkeit wurde relativiert. Sie ist als Grenzfall (bei nied­rigen Ge­schwindigkeiten) durch­aus gültig. Es fehlten ihr sozusagen nur die Rah­menbedingungen, unter welchen sie ihre Gültigkeit bewahrt. An­schei­nend gehört dieses Beispiel zu Fall a.
Ich möchte abschließend noch ein paar eigene Überlegungen zum The­ma Bivalenz anstellen. Mir erscheint die Voraussetzung einer Bivalenz durchaus sinnvoll und gerechtfertigt, vor allem in einem wissenschaftli­chen Diskurs, bei der es auf Exaktheit ankommt. Dennoch habe ich meine Schwierigkeiten mit den Popperschen Aussagen am Anfang des Referates, insbesondere mit dem Satz: 2. Es gibt ebensoviel wahre wie falsche Aussagen. In der wissenschaftlichen Praxis gewinne ich eher den Eindruck, daß es unsagbar mehr falsche als wahre Sätze gibt. Das wider­spricht nicht dem principium exclusi tertii, wohl aber der Festlegung, daß durch Negation einer falschen Aussage immer eine wahre Aussage entsteht. Ich halte die Negation nicht immer für symmetrisch: Werden wahre Propositionen verneint, entstehen falsche. Werden in bestimmten Kontexten jedoch falsche Pro­positionen verneint, entstehen wahre oder falsche. Es gibt meiner Meinung nach unter bestimmten Gesichtspunkten mehr falsche als wahre Sätze! Um das zu prä­zisie­ren, muß ich etwas ausholen:
Es geht hier vor allem um singuläre Propositionen. Als Beispiel nehme ich den Satz „Pegasus ist weiß“. Nun muß ich natürlich angeben, in welchem Diskurs ich mich befinde. Als literarische bzw. mythologische Gestalt ist die Aussage wahr. Begebe ich mich jedoch in einen natur­wis­senschaftlichen Diskurs, so ist die Aussage falsch, weil sie auf keinen Gegenstand zutrifft. Wie steht es nun mit der Proposition „Pegasus ist nicht weiß“? Im ersten Kontext wäre diese Aussage falsch. Im naturwis­senschaftlichen Kontext wird diese Aussage allerdings nicht wahr, son­dern bleibt falsch. (Früher wurden diese Sätze einfach „sinnlos“ genannt. Ich halte das aber für überzogen.) Von einem Gegenstand, den es nicht gibt, ist jede Prädikation – gleichgültig ob affirmativ oder negativ – falsch! Die Natur­wissenschaft scheidet diesen Namen einfach aus, weil er nichts be­zeichnet. Das beinhaltet natürlich weit­reichende logische Probleme. Wel­chen Stellenwert besitzt ein Name innerhalb der Logik? Wie wird Exi­stenz aufgefaßt? Wie kann etwas einen Namen haben und zugleich nicht existieren? Sind Namen kon­textabhängig?
Menne schreibt dazu in „Einführung in die Formale Logik“, Seite 107: …Existenz gründet also auf Widerspruchsfreiheit. Nur diese Existenz, die Existenz des in sich Widerspruchsfreien, ist hier mit Existenz gemeint. In der Prinzipia Mathematica stimmen die Definitionen und Formeln zwar mit dieser Interpretation überein, doch leider nicht die Beispiele: Dadurch entstand leider eine ziemliche Verwirrung. „Pegasus“ oder „Zentaur“ sind nicht widerspruchsvolle Begriffe – also nicht Elemente der Nullklasse! Logisch betrachtet kommt ihnen durchaus Existenz zu, wenn sie auch in der physikalischen Wirklichkeit nicht existieren. Physische Existenz ist eine inhaltliche Eigenschaft, keine formale, logische Beschaffenheit.
Existenz ist ontologisch indifferent. Oder wie Quine es ausdrückt (1964): Der Parthenon ist ein räumlich und zeitlich festgelegter Gegenstand, während die Zahl 7 (wenn es soetwas gibt) eine andere Art von Ding ist. Aber das ist ein Unterschied zwischen den Objekten und nicht zwischen zweierlei Sinn von »sein«. Die Existenz im naturwissenschaft­li­chen Sinn ist aber scheinbar ontologisch intendiert. Ich halte den Ansatz von Menne insofern für glücklich, daß hier mit der Logik alle möglichen Welten beschreibbar sind, wohingegen die Naturwissenschaft eine reale Welt im Auge hat. Und die scheint nur einen Bruchteil des Möglichen (im Sinne des Denkbaren) auszufüllen. Der logische Existenzbegriff bezieht sich dem­nach nur auf denkbare Welten. Zumindest das gedankliche Element existiert.
Aller­dings würde dem nicht nur Nelson Goodman heftig widersprechen. Für ihn gilt: Alle möglichen Welten liegen innerhalb der wirklichen (1953). Er würde Pegasus und auch Chiron in den Bereich der Nullmenge stellen, da sie sowohl physikalisch, als auch physiologisch unmöglich sind. Sie sind demnach selbstwider­sprüchlich. Dieser Ansatz hat durchaus etwas für sich, da ein geflügeltes und zugleich flug­fähiges Pferd ohne massive anatomische Umgestaltung nicht realisierbar ist (bzw. nicht so aussehen kann, wie wir uns Pegasus vorstellen). Aller­dings bewegt er sich meiner Meinung nach in einem rein naturwissen­schaft­lich abgegrenzten Diskursuniversum, daß er scheinbar als einziges Universum gelten läßt. Als Gegenbeispiel verweise ich auf die Romanfigur Sherlock Holmes von A. C. Doyle, die sicher nicht selbst­wider­sprüchlich ist (sie widerspricht auch keinem Natur­gesetz!).
Wenn Wahrheit als referentiell in bezug auf ein Diskursuniversum auf­gefaßt wird, erscheint mir die Viele-Welten-Theorie angemessen. Hier ergibt sich der Fall, daß in einem bestimmten Diskursuniversum die Ver­wendung eines bestimmten Namens nicht sinnvoll erscheint, da alle Prä­dikationen – ob negativ oder affirmativ – falsch sind. Der Name wird ent­weder selbst zu einem Prädikat (als Sammelausdruck für bestimmte Eigenschaften: „Es gibt etwas, das ist Pegasus“, vergleiche dazu den Aufsatz von Quine (1953): „On What There Is“), oder aber die Existenz selbst bekommt prädikative Eigenschaften („Pegasus existiert nicht“). Wenn aber von nicht existenten Dingen jede Prädikation falsch ist, muß selbst diese falsch sein. Logische Existenz als Prädikat aufzufassen er­scheint daher als widersinnig. Wahrscheinlich ist es so, daß die lo­gi­sche Existenz nichts mit dem ontischen Status zu tun hat. Was kommt also zur logischen Existenz hinzu, um damit reale Existenz aus­zu­drücken? Hat es etwas mit der Zeitlichkeit der realen Dinge zu tun? Was gestern noch nicht war und morgen nicht mehr sein wird, kann heute durchaus existieren.
Mir scheint, hier liegt vor allem eine sprachliche Verwirrung vor. Es sind zwei Existenzbegriffe zu unterscheiden: 1. der logische Existenzbegriff (im Sinne einer Partikularisation) und 2. der ontologische Existenzbegriff (im Sinne einer realen Repräsentation). Der erste Begriff drückt sich im Kalkül als Existenzoperator (Partikularisator) aus und bindet zugleich eine Variable. Jede Substitutionsinstanz, die einen nicht wiederspruchs­vollen Ausdruck ergibt, repräsentiert einen intelligiblen Gedanken (in einer intelligiblen Welt). Dieser Partikularisator bindet jedoch keine Indi­vi­duenkonstanten bzw. Namen! Der zweite Begriff stellt fest, ob ein Indivi­duum (als gedankliches Konzept) eine reale Reprä­sen­tation in Raum und Zeit aufweist. Ich versuche eine Symbolisierung:
Ex (x=a -> E1x), wobei E1x für x ist raumzeitlich repräsentiert steht.
Wenn gilt: ~Ex (x=a -> E1x)
dann: Ax ~(x=a -> E1x)
~(a=a -> E1a)
~(~a=a & E1a)
(~~a=a & ~E1a)
a=a & ~E1a
d.h.: a ist nicht raumzeitlich repräsentiert
Dieser Fall setzt somit – im Gegensatz zum ersten – eine Onto­logie voraus! Das Prädikat gibt den ontischen Status an, was die Existenz­quantifikation unterlässt. Der Name steht dann nur mehr für ein ge­dankliches Konzept. Und logische Existenz bezieht sich nur mehr auf Konsistenz (auf Aussagen, welche sich nicht selbst widersprechen: es geht hier also auch um das Verständnis des Begriffs Wahrheit. Ich bin daher geneigt, zwischen formaler Richtigkeit und Wahrheit zu unter­scheiden!).
Die Ver­wirrung ent­steht durch die Vermengung beider Konzepte von Existenz, die in der Homonymie begründet liegt.






Literatur:

Goodman, Nelson (1953): Das Verschwinden des Möglichen. In: Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt/Main 1988.

Menne, Albert (1985): Einführung in die formale Logik: eine Orientierung über die Lehre von der Folgerichtigkeit, ihre Geschichte, Strukturen und Anwendungen. 2. Auflage, Darmstadt 1991.

Popper, Sir Karl R. (1972): Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Ent­wurf. 4. Auflage, Hamburg 1984.

Popper, Sir Karl R. (1984): Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vor­träge und Aufsätze aus dreißig Jahren. München 1984.

Popper, Sir Karl R. (1994): Alles Leben ist Problemlösen. Über Er­kennt­nis, Geschichte und Politik. München 1994.

Quine, Willard Van Orman (1953): On What There Is. In: Quine, Willard Van Orman (1953): From A Logical Point Of View. Nine Logico-Philo­sophi­cal Essays. 2nd Edition, Cambridge (US) & London (UK) 1980.

Quine, Willard Van Orman (1960): Word and Object. New York 1960.

Quine, Willard Van Orman (1964): Grundzüge der Logik. 8. Auflage, Frankfurt/Main 1993.

Tichý, Pavel (1974) in: Britisch Journal for the Philosophy of Science 25, Seite 155–160.