Wednesday, January 01, 2014

Weltenlos? Kritik an einer Weltleugnung.


Mit dem 23. Juni 2011 soll ein neues Zeitalter eingeläutet worden sein, der so genannte „Neue Realismus“, der die Postmoderne ablösen will. Mit seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ versucht Markus Gabriel diesen „neuen“ („alten“) Weltzugang zu erläutern. Er konstatiert: „Der Konstruktivismus ist absurd, er wird meist aber nicht durchschaut.“

Während der Postmodernismus die Welt als Konstrukt der menschlichen Sinne und Interessen sieht, und sich über eine vermeintlich dahinterliegende Wirklichkeit enthält (Epoché) oder sie gar leugnet, erklärt der Neue Realismus hingegen alles für wirklich: die Welt, wie wir sie sehen, und die Welt, wie sie ist. Alles ist wirklich, alles existiert: „Wie meine linke Hand mir erscheint, ist genauso real wie meine linke Hand selbst.“ Es gibt somit viele Welten oder „Sinnfelder“ (so nennt Gabriel Sinnzusammenhänge), aber eben nicht die eine, alles umfassende Welt.

Interessant an Gabriels Ansatz ist, dass er versucht, eine Brücke zwischen subjektiver Weltsicht und objektiver Wirklichkeit zu schlagen. Für ihn ist beides wirklich und daher vorhanden, wenn auch in anderen „Sinnfeldern“. Somit vervielfachen sich seine realen Objekte ins Unermessliche. Darum gibt es auch nichts, das alles enthalten kann. Jeder Gedanke über die Welt ist wieder nur ein Objekt in der Welt. Hier argumentiert er in gewisser Weise analog zu Russels Typentheorie (es gibt keine Menge, die alle Mengen und zugleich auch sich selbst enthält). Dennoch macht er Aussagen über die Welt, indem er einerseits Martin Heidegger zitiert („Die Welt ist der Bereich aller Bereiche.“) und sie andererseits negiert: die Welt als Gesamtheit gibt es eben nicht gibt. Offenbar will er damit ausdrücken, dass der Bereich aller Bereiche überabzählbar unendlich und daher nicht umfassend darstellbar ist. Einen solchen Supergegenstand, der wirklich alles umfasst, kann es darum nicht geben: „Der Ausdruck »alles« bezieht sich auf nichts Bestimmtes.“ Dennoch plädiert er für eine „formale Weltunterstellung“, um Kohärenz herstellen zu können.

Die Leugnung der Welt ist eine Sache; zu sagen, dass man über sie nicht sinnvoll sprechen kann, eine andere.  Erinnert sei hier an das Bonmot von Ludwig Wittgenstein: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Vielleich sollte man sich auch seinen folgenden Ausspruch vergegenwärtigen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“

Nach eigenem Ermessen kommt Gabriel ohne jede Metaphysik aus, die er in der Reflexion über das Weltganze verortet. Allerdings betreibt er Ontologie, eine klassisches Terrain der Metaphysik, nicht aber für Gabriel. Ohne Ontologie kommt er nicht aus, denn er muss die Dinge und Tatsachen, die die Welt ausmachen, Sinnfeldern zuordnen. Alles Seiende existiert ja nur in einem bestimmten Sinnfeld: „Der Gedanke an Schnee und Schnee gehören schlicht  zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen an.“

Zugleich versucht er mithilfe einer ontologischen Reduktion nachzuweisen, dass gewisse Diskurse inhaltsleer (ergo „Geschwätz“) sind. Er nennt das „Irrtumstheorie“. Allerdings räumt er ein, dass auch das Geschwätz Teil der Wirklichkeit ist und somit existiert, wenn eben auch nur als Geschwätz: „Falsche Gedanken existieren, aber die Gegenstände, von denen sie handeln, kommen nicht in dem Feld vor, in dem falsche Gedanken sie verorten.“

Um seinen ontologischen Pluralismus zu verteidigen, wendet Gabriel sich gegen die formale Logik, derzufolge Existenz offenbar immer auch mit Zählbarkeit zu tun hat (zumindest ist die formale Logik dadurch ontologisch neutral, denn der Existenzquantor nimmt keinen Bezug auf irgendwelche Seinsweisen). Für Gabriel sind Sinnfelder mehr als nur formal beschreibbare Mengen. Er greift dabei auf Freges Sinnbegriff zurück und versucht zu zeigen, dass je nach Sinnfeld der nämliche Gegenstand als etwas ganz anderes in Erscheinung treten kann, z.B. als physikalisches Objekt, als Kunstwerk, als Bedrohung, als Wertgegenstand etc.: „Der Sinn ist die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“ Existenzaussagen sind für Gabriel immer nur in Bezug auf ein Sinnfeld berechtigt: „Existenzaussagen, seien sie positiv oder negativ, beziehen sich immer nur auf ein Sinnfeld oder einige Sinnfelder, niemals aber auf alle und am allerwenigsten auf ein allumfassendes Sinnfeld.“

Für Gabriel gibt es unendlich viele Sinnfelder mit unterschiedlichsten Eigenschaften. Die Frage, welche Sinnfelder es konkret gibt und wie sie beschaffe sind, ist seiner Meinung nach aber eine empirische zu beantwortende. Er bezieht hier aber die Geisteswissenschaften mit ein. Jedenfalls ist für ihn die Welt erkennbar, wenn auch von einem menschlichen Standpunkt aus. Für ihn gibt es kein „Ding an sich“, einen unerkennbaren Träger der Eigenschaften, sondern die Eigenschaften selbst sind die Konstituenten der Dinge. Andererseits gibt es auch keinen neutralen Beobachtungsort, da die Erscheinungen immer auch in einem Kontext stehen, in dem der Mensch miteingebunden ist. Meiner Meinung nach ist das Metaphysik.

Letztendlich ist Gabriel ein Platonist, der an real existierenden Universalien festhält (und das angeblich ohne Metaphysik!). Das wird besonders deutlich, wenn er sich gegen den Nominalismus („Namen sind Schall und Rauch“) wendet. Für ihn gibt es vorhandene Strukturen, die wir begrifflich nachzeichnen. Sein Realismus ist die allgemeine Behauptung, dass es universale Strukturen gibt. Seine doppelte These lautet, „dass wir erstens Dinge und Tatsachen an sich erkennen können und dass zweitens Dinge und Tatsachen an sich nicht einem einzigen Gegenstandsbereich angehören.“ Das ist zumindest ein Standpunkt. Ob er hält, ist fraglich. Eigenartig ist nur, dass er sich gegen die Aufklärung wendet, der er explizit vorwirft, die Welt sinnentleert zu haben. Was er dabei übersieht, ist, dass die Aufklärung die Welt zwar in gewissem Sinne entzaubert, aber zugleich den Mensch mit nüchternem Blick wieder ins Zentrum gestellt hat (man denke zum Beispiel an die Menschenrechte: Der Mensch dient nicht einem höheren Wesen, sondern sich und den Mitmenschen; und der Antrieb für diese Entmythifizierung und Zurechtrückung ist der Nominalismus). Namen (als phonetische Gebilde oder Symbole) sind aber unbestreitbar willkürlich, die Proposition dahinter vielleicht nicht (oder zumindest nicht immer). Interessant ist in diesem Zusammenhang sein Kapitel über „Sider-Welten“, indem er versucht zu zeigen, dass konstruierte „Querbegriffe“ unsinnig sind.

Wider seinen Anspruch, gegen die Aufklärung zu sein, greift er aber doch ein altes Sujet der Aufklärung auf, nämlich die Ideologiekritik (auch wenn er sie die Kritik an Weltbildern nennt). Das ist eindeutig eine aufklärerische Tugend.

Befremdet hat mich insbesondere, dass er die Theologie als Wissenschaft verteidigt. Er gesteht zwar ein, dass es kein höchstes Wesen und keinen Schöpfer geben kann (hier argumentiert er analog zu seinem Argument wider die Weltexistenz), dennoch rechtfertigt er die Theologie als sinnstiftendes und tröstendes Unternehmen. Zugleich wirft er dem wissenschaftlichen Weltbild Fetischismus vor, ein Vorwurf, der eher Religionen trifft. Wenn ein wissenschaftliches Weltbild, das sicher nur eines unter vielen sein kann, fetischhaft sein sollte, wäre Wissenschaft starr und unwandelbar. Aber Wissenschaft verändert sich ständig in Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen. Sie ist kein starres Lehrgebäude, wie z.B. die Homöopathie, und schon gar kein Weltbild. Aber zumindest räumt er ein: „Sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Weltbild sind falsch, sofern es sich um Weltbilder handelt.“ Und: „Religion ist das Gegenteil einer Welterklärung.“

Es gäbe sicher noch viel zu diesem Buch (er äußert sich u.a. noch zu Kunst und Kultur) zu sagen, aber ich möchte es hiermit belassen, vor allem, weil ich in diesen Bereichen nicht wirklich firm bin. Ungewöhnlich sind auch seine Bezugnahmen auf Kinofilme und TV-Serien (obwohl ich letztere als TV-Verweigerer nicht kenne und daher seine Anspielungen nicht immer verstehe). Die „Science Busters“  (www.sciencebusters.at) scheinen ihm jedenfalls unbekannt zu sein. Insgesamt überzeugt seine Darstellung nicht, obwohl er viele interessante philosophische Probleme anreißt. Wirklich neu erscheint mir sein Platonismus (der ja schließlich auf Platon alias Aristokles, also ca. 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung, zurückgeht) auch nicht zu sein.

Markus Gabriel:
Warum es die Welt nicht gibt.

Ullstein, Berlin 2013

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