Thursday, March 16, 2017

Sorites: Das Haufenparadoxon

Der Sorites – oder auch Haufen-Paradoxon – gehört zu den klassischen Problemen der Logik. Der Begriff selbst leitet sich vom griechischen Wort σωρος für „Haufen“ ab. Es handelt sich dabei um einen Kettenschluss, der – auf einen vagen Begriff wie eben „Haufen“ angewandt – offenbar keinen Sinn ergibt bzw. zu einem Widerspruch führt. Wer das Haufenparadox zuerst formuliert hat, ist umstritten. Zumeist wird Zenon von Elea genannt. Es ist aber anzunehmen, dass das Paradoxon in mündlicher Überlieferung wesentlich älter ist.
Man kann den Sorites progressiv (1) oder regressiv (2) anwenden:
(1)    Ein Sandkorn macht noch keinen Haufen. Zwei Sandkörner machen noch keinen Haufen. Drei Sandkörner machen noch keinen Haufen u.s.w.
Ergo: Beliebig viele Sandkörner machen keinen Haufen!
(2)    Ein Haufen, dem ein Sandkorn genommen wird, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem zwei Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem drei Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen u.s.w.
Ergo: Ein Haufen, dem alle Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen!
Offensichtlich führen beide Kettenschlüsse zu Widersprüchen. Wo liegt also das Problem bzw. der Fehlschluss?
Eine Möglichkeit, die Paradoxie zu umgehen, besteht darin, eine genaue Definition anzubieten, ab wie vielen Sandkörnern man von einem Haufen sprechen kann. Das Problem verlagert sich jetzt aber nur, denn es ist unmöglich, eine bestimmte Zahl anzugeben. Die Grenzziehung ist immer willkürlich und daher nicht stringent, also strittig. Dennoch wird genau diese Strategie in der Wissenschaft häufig angewendet, um vage Begriffe zu eliminieren. Aus pragmatischer Sicht kann das also durchaus sinnvoll sein, sofern man sich in der „scientific community“ auf eine allgemein anerkannte Definition einigen kann, um mit den nun exakten – wenn auch arbiträren – Begriffen in der Folge wissenschaftlich arbeiten zu können. Doch logisch ist diese rein pragmatische Lösung dennoch unbefriedigend.
Eine sehr spitzfindige Lösung stammt von Ludwig Wittgenstein. Er geht davon aus, dass der Begriff Haufen in der Alltagssprache immer nur dann zur Anwendung kommt, wenn man nicht in der Lage ist, die Zahl der Elemente anzugeben. Sobald man jedoch eine genaue Zahl angibt, kann man nicht mehr von einem Haufen sprechen, da das Wort dann inadäquat ist, weil es impliziert, dass es sich um eine unklare Anzahl von Elementen handelt. Prima facie wirkt das Argument einleuchtend, aber löst es das Problem mit dem Kettenschluss wirklich? Mir scheint, das Argument ist nur in der deutschen Sprache anwendbar, da hier „Haufen“ zwei semantische Verwendungen hat: einerseits als Bezeichnung für ein physisches Gebilde (Phänomen) und andererseits als unbestimmtes Zahlwort (umgangssprachlich: ein Haufen Fragen). Wittgenstein vermischt in seinem Argument beide Semantiken.
Ein weiterer Ansatz ist, dass man schon einem einzelnen Sandkorn die Eigenschaft des Haufens zuerkennt. Damit wäre zwar der logische Widerspruch beseitigt, aber der Ansatz ist extrem kontraintuitiv und daher sehr unbefriedigend, wenn auch formal möglich.
Mehrwertige Logiksysteme – und insbesondere die Fuzzylogic – lösen scheinbar das Sorites-Problem, aber dafür handelt man sich viele andere formale Probleme ein. Somit ist nicht ganz klar, ob der Ansatz wirklich zielführend ist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass man, um die Fuzzylogic zu formulieren, erst wieder auf die klassische zweiwertige Logik als Metalogik zurückgreifen muss. Sie scheint daher die grundlegendere Logik zu sein. Die Fuzzylogik kann also nur als Erweiterung oder Ergänzung dieser für Spezialanwendungen betrachtet werden und keinen Universalanspruch erheben.
Mein Zugang zu diesem Problem ist nun folgender: Ein Haufen ist nicht durch die Anzahl der Elemente definiert, sondern durch deren Anordnung. Es handelt sich somit um eine Ansammlung von Elementen auf einem begrenzten Raum. Daher ist klar: durch Vermehrung der Sandkörner entsteht nicht zwangsläufig ein Haufen. Diese zusätzliche Eigenschaft der Assoziation steckt nicht im Sandkorn, sondern in der Raumzeit. Ich kann beliebig viele Sandkörner gleichmäßig im Universum verteilen – damit vermeide ich die Entstehung eines Haufens. Der Haufen ist ein Emergenz, die erst durch eine bestimmte raumzeitliche Anordnung der Sandkörner entsteht, so wie eine Wolke aus Wasserdampf entstehen kann (aber nicht muss), oder wie sich ein Vogelschwarm bildet, wenn sich gewisse Singvögel plötzlich in Großgruppen auf Wanderschaft begeben.
Somit kann man logisch nicht ableiten, ab wann aus Elementen ein Haufen entsteht bzw. wann sich ein Haufen auflöst, weil es sich nicht um eine Eigenschaft seiner Elemente handelt, sondern um eine Eigenschaft der raumzeitlichen Verteilung. Oder anders ausgedrückt: Das Ganze kann mehr sein als die Summe seiner Teile. Die Eigenschaft des Haufens „emergiert“ aus den Elementen erst durch eine bestimmte rumzeitliche Assoziation. Diese Eigenschaft hat daher primär nichts mit dem Eigenschaften der Elemente zu tun, sondern ist ein Ergebnis einer großen Zahl, die unter Umständen eine bestimmte raumzeitliche Beziehung zueinander haben kann.
Die Eigenschaft des Haufens kann also nicht auf das einzelne Sandkorn angewendet werden und auch nicht umgekehrt. Daraus ergibt sich, dass der Kettenschluss (1) formallogisch gültig ist, da sich aus den Eigenschaften der Sandkörner nicht ableiten lässt, wann oder ob eventuell ein Haufen entsteht. Das ist eine unabhängige Eigenschaft, die nichts mit dem einzelnen Sandkorn zu tun hat. Die Eigenschaft des Haufens kommt nur unter bestimmten Rahmenbedingungen hinzu. Erst unter gewissen Umständen emergiert sozusagen ein Haufen aus einer Vielzahl von Elementen.
Beim regressiven Kettenschluss (2) bleibt also, nachdem hier argumentativ vom vagen Begriff „Haufen“ ausgegangen wird, das Polylemma, wann sich der Haufen auflöst. Dass er es tut, ist evident, allerdings lässt sich dafür kein exakter Punkt angeben. Das ist ein logisches Problem, das grundsätzlich allen vagen Begriffen inne wohnt.
Vagheit führt zu prinzipiellen Problemen. Vage Begriffe wie Haufen, Schwarm, Wolke, Berg etc. lassen sich nicht eindeutig definieren oder abgrenzen. Offensichtlich brauchen wir für unsere Kommunikation dringend vage Begriffe, da in dieser Welt vieles uneindeutig und im Fluss ist. Es gibt selten klare Grenzen, Übergänge sind stets fließend, der Essenzialismus ist eine Illusion.
Mein Lösungsansatz für den Sorites lautet also wie folgt: Die Sandkörner haben logisch nichts mit dem Haufen gemein, da sich der Begriff „Haufen“ nur auf eine bestimmte raumzeitliche Anordnung von beliebigen Elementen bezieht. Das hat keinerlei Einfluss auf die Elemente selbst. Daher ist die logische Verknüpfung vom Begriff „Haufen“ und seinen Elementen logisch nicht statthaft. Das Phänomen „Haufen“ ist eine Emergenz, die primär nichts mit seinen Elementen zu tun hat. Die Eigenschaft „Haufen zu sein“ ist völlig unabhängig von den Eigenschaften seiner Elemente.
Conclusio: Der Kettenschluss (1) ist gültig, weil sich aus der Vielzahl von Sandkörnern nicht zwangsläufig ein Haufen bildet. Der Kettenschluss (2) ist nicht gültig, weil bei der Prädikation keine semantischen Gemeinsamkeiten vorhanden sind, die logisch verknüpft werden könnten. Somit sind bereits die Prämissen unzulässig, weil sich das Phänomen „Haufen“ auf die raumzeitliche Konstellation bezieht und daher nichts mit den spezifischen Eigenschaften oder einer bestimmten Anzahl der einzelnen Elemente zu tun hat bzw. nicht auf diese zurück wirkt oder aus diesen abgeleitet werden kann.

Literatur:
Ulrich Pardey: Unscharfe Grenzen. Über die Haufen-Paradoxie, den Darwinismus und die rekursive Grammatik, Journal for General Philosophy of Science 12-2002, Volume 33, Issue 2, Springer, Berlin 2002, S. 323–348.
Richard M. Sainsbury: Paradoxien. Übersetzung von Vincent C. Müller, Reclam, Stuttgart 1993, 2. Aufl. 2001, S. 39–72.
Timothy Williamson: Vagueness. Routledge, London 1998.
William Poundstone: Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiter kommt. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt, Reinbeck 1992.


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