Saturday, October 26, 2013

TESTOSTERON MACHT POLITIK

Politische Entscheidungen folgen
oft nicht rationalen Überlegungen.
Gefühle, Begierden und Ängste werden
 in der politischen Analyse
unterschätzt oder völlig ausgeblendet.
Karin Kneissl


„Will man Politik verstehen, muss man die Natur des Menschen begreifen.“ Mit diesem Satz beginnt das neue Buch von Karin Kneissl, ein Versuch, den Zusammenhang von Politik, Geschichte und der  „Conditio humana“  zu ergründen. Es geht ihr dabei weder um populistischen Biologismus noch um plumpen Determinismus, sondern um die Frage, inwiefern die biologische Grundausstattung des Menschen neben den sozialen und ökonomischen Faktoren Einfluss auf das politische Geschehen nimmt. In diesem Kontext lenkt sie ihr Augenmerk auf mögliche Konsequenzen des hormonellen Status der handelnden Individuen auf die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Als Juristin war Karin Kneissl bis zum Jahre 1998 im diplomatischen Dienst der Republik Österreich tätig und ist seither freischaffende Publizistin und unabhängige Korrespondentin für mehrere Tageszeitungen. Daneben unterrichtet sie in Wien und Beirut internationale Beziehungen.
Gleich zu Beginn stellt Kneissl in ihrem Buch die Frage, ob junge Männer grundsätzlich die besseren Revolutionäre sind, da sie sich zumeist ohnehin im Kampf um Status und Anerkennung befinden. Sie geht dabei von der These aus, dass es in soziopolitischen Konstellationen, in denen es einen Überschuss an jungen Männern gibt, die zugleich ohne Perspektive und soziale Anerkennung leben, da sie sich nicht sinnvoll in die Gesellschaft einbringen können und auch sonst keine Möglichkeit haben, sich zu verwirklichen, tendenziell eher dazu neigen, einen Umsturz anzuzetteln. Getrieben werden sie durch ihre hormonelle Energie, die kein Ventil findet. Im Anschluss versucht sie, historische Revolutionen von diesem Aspekt her zu analysieren. Dabei geht sie auch auf die aktuellen Revolutionen im arabischen Raum ein, die sie ebenfalls als ein Aufbegehren von zornigen jungen Männern versteht.
In ihrer Analyse beleuchtet sie insbesondere die  gesellschaftlichen Zwänge im arabischen Kulturkreis, in welchem Würde und Status des Mannes insbesondere durch eine Heirat bestimmt ist, die aber für einen Großteil der jungen Männer ein unerreichbares Ziel bleibt. Zugleich gibt es aber auch eine sexuelle Obsession, die aufgrund der strikten Sexualmoral und der sozialen Kontrolle nicht ausgelebt werden kann. Daher versucht die Autorin im folgenden Kapitel eine naturwissenschaftliche Bestandsaufnahme betreffend Sexualhormone und deren Effekte. Obwohl sie versucht, ein differenziertes Bild zu entwerfen, erkennt man doch, dass dies nicht ihr eigentliches Metier ist. Ihre Kompetenzen liegen eindeutig bei der Politikwissenschaft. Dennoch gelingt es ihr, zu zeigen, dass der Hormonstatus jedenfalls einen Einfluss auf das individuelle Verhalten hat.
In der Folge beschäftigt sich die Autorin mit den demografischen Entwicklungen in Asien und die möglichen Konsequenzen für die Zukunft. Frau Kneissl sieht darin ein gewaltiges Potenzial für zukünftige Unruhen, Aufstände oder gar Kriege, da sich der Frauenmangel zu einer immensen Frustrationsquelle für junge Männer entwickelt. Auch der Frauenraub ist hier ein Thema, sowohl in der historischen, als auch in seiner aktuellen Dimension. Sie verweist dabei auf den Roman von Amin Maalouf („Le Premier Siecle apres Beatrice“, Paris 1992), worin viele Entwicklungen der Gegenwart vorweg genommen und mögliche Folgen illustriert werden.

In den letzten beiden Kapiteln reflektiert Kneissl wiederholt die Natur des Menschen, und zwar evolutionsbiologisch, neurophysiologisch, psychologisch, pädagogisch und philosophisch. Sie gibt dabei zu, dass ihr Buch mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet, aber das liegt wohl auch daran, dass die Wissenschaft den Zusammenhang von Geschichte und der menschlichen Biologie bisher immer sträflich vernachlässigt hat. Sie gesteht auch ein, dass die empirische Basis noch mehr als dürftig ist. Gerade deshalb ist das Buch ein wichtiger Beitrag, die Forschungen in diese Richtung zu intensivieren.

Karin Kneissl
TESTOSTERON MACHT POLITIK
Braumüller, Wien 2012 (152 Seiten)

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Wednesday, October 23, 2013

Briefe an einen jungen Forscher


In seiner kleinen Schrift „Briefe an einen jungen Wissenschaftler“ versucht der Harvard-Professor Edward O. Wilson – untergliedert in fünf thematische Abschnitte – mit kurzen und unabhängig zu lesenden Aufsätzen (Briefen) einen Leitfaden für eine wissenschaftliche Karriere zu geben. Seine fünf Generalthemen, unter die er seine Briefe einordnet, lauten dabei: Der Weg, dem man folgen muss – Der kreative Prozess – Ein Leben für die Wissenschaft – Theorie und großes Bild – Wahrheit und Ethik.

Im ersten thematischen Abschnitt, der den Werdegang eines Wissenschaftlers beleuchtet, geht es ihm vor allem um die persönliche Leidenschaft, die für den Erfolg in einer Wissenschaftsdisziplin unerlässlich ist. Leidenschaftliche Arbeit ist wichtiger als das wissenschaftliche Training für den Erfolg. Auch mathematische Talente sind in vielen Bereichen entbehrlich. Pioniere der Wissenschaft haben selten ihre Erkenntnisse aus der Mathematik bezogen. Falls man für seine Forschungen auch Mathematik braucht, soll man sich eben an Fachleute wenden. Speziell in den Biowissenschaften ist die Mathematik wenig fruchtbringend, weil die relevanten Faktoren des wirklichen Lebens häufig entweder missverstanden oder nicht erkannt bzw. übersehen werden. Außerdem gibt es fast in jeder wissenschaftlichen Disziplin mindestens einen Bereich, in denen man auch ohne Mathematik exzellente Leistungen erbringen kann. Wichtiger ist es, eine Nische zu finden, in der man zum Spezialisten aufsteigen kann. Jedes wissenschaftliche Problem bietet eine Chance. Je größer das Problem, umso besser! Jedenfalls ist es immer besser, sich abseits vom Mainstream zu bewegen.

Im Abschnitt, der den kreativen Prozess behandelt, geht Wilson zuerst der Frage nach, was Wissenschaft eigentlich ist. Für ihn ist es das organisierte und testbare Wissen von der Welt im Gegensatz zu den unzähligen Meinungen, die sich von Mythen und Aberglauben nähren. Für ihn übertrifft die wissenschaftliche Methode in der Erklärungskraft jedenfalls jeden religiösen Glauben in Bezug auf Ursprung und Sinn des menschlichen Lebens. Daher ist es für jeden Wissenschaftler essenziell, sich darauf zu besinnen, dass es um die Erforschung der realen Welt geht, und nicht um die Bestätigung von vorgegebenen Meinungen oder Trugbildern. Nur prüfbare Fakten zählen in der Wissenschaft. Wenn die Forschungsergebnisse korrekt und stimmig sind, werden sie auf Dauer jede Ideologie und jeden politischen Widerstand überwinden. Ein idealer Wissenschaftler denkt wie ein Poet und arbeitet wie ein Buchhalter. Das garantiert nachhaltige Ergebnisse. Die äußersten Grenzen der Wissenschaft kann man aber nur erreichen, wenn man auch die Landkarten kennt, die die früheren Forscher bereits gezeichnet haben. Um aber ein neues Terrainabzuklopfen, können kleine unkontrollierte Experimente sehr hilfreich sein, nur um zu sehen, ob sich etwas Interessantes auftut. Neue Technologien können dabei nützlich sein, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden (Liebe sie also nicht!). Wichtig ist aber vor allem, sich selbst treu zu bleiben.

Ein Leben für und in der Wissenschaft sieht für Wilson folgendermaßen aus: Immer gut ist es, wenn man einen Mentor findet. Also gehe man auf die Suche. Von daher ist es schon angebracht, nicht unbedingt mit dem Strom zu schwimmen. Außerdem sollte man sich in seinem Wahlgebiet gut auskennen. Auch in der modernen Biologie sind dabei gute Kenntnisse in Taxonomie und Systematik unerlässlich. Dann versuche man das Unmögliche, um etwas Außergewöhnliches zu erreichen.

Im Abschnitt „Theorie und das große Bild“ stellt Wilson fest, dass das Leben auf der Erde noch weitgehend unbekannt ist, sodass es ein leichtes ist, ein Forscher zu sein, ohne seine Umgebung unbedingt verlassen zu müssen. Wir suchen nach Mustern, die erkennbar werden, wenn sich die Puzzle-Teile zusammen fügen. Wenn so ein Muster entdeckt wird, nutzen wir es als Arbeitshilfe, um neue Untersuchungsansätze zu kreieren. Wenn die neuen Methoden nicht gut greifen, müssen sie besser adaptiert werden. Greifen sie gar nicht oder ergeben sich Widersprüche, so muss man eben nach neuen Mustern Ausschau halten. In jedem Fall erzeugt eine wissenschaftliche Antwort immer auch wieder neue Fragen. Hier zitiert er Newton: „If you see further than others, it is by standing on the shoulders of giants.“ Jedenfalls können Ambition und unternehmerischer Geist häufig fehlende Brillianz ersetzen.

Wahrheit und Ethik gehören für Wilson offensichtlich zusammen. Im letzten Abschnitt beleuchtet er den wissenschaftlichen Ethos. Die oberste Maxime für jeden Wissenschaftler ist für ihn die Verfolgung der Wahrheit. Wissen an sich ist niemals negativ zu sehen, aber was man damit anfängt – die Anwendung von Wissen – kann durchaus verderblich sein, insbesondere wenn sie für ideologische Zwecke missbraucht wird. Daher gibt es für ihn keinen großen Wissenschaftler, der ganz allein für sich in einer verborgenen Kammer arbeitet. Austausch und voneinander Lernen gehören für ihn stets dazu.

Mit seiner Anleitung für eine wissenschaftliche Karriere will Wilson jungen Wissenschaftlern etwas aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Starthilfe mit auf den Weg geben. Das ist ihm mit diesem Büchlein sicher auch gelungen. Man kann nur hoffen, dass es auch von jungen Menschen gelesen wird, um ihnen den Einstieg in die Wissenschaft zu erleichtern und Anregungen für die persönliche Karriereplanung zu geben. Im Studium hört man solche Dinge kaum – ich wäre froh gewesen, hätte es so ein Handbuch schon zu meiner Zeit gegeben.


Letters To A Young Scientist

Edward O. Wilson

Liveright Publishing Cooperation, New York 2013

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Die soziale Eroberung der Erde

Edward O. Wilson, der Doyen der Evolutionsbiologie und leidenschaftlicher Ameisenforscher, hat mit seinem neuen Buch für große Aufregung unter den Evolutionsbiologen gesorgt. Galt er doch bis jetzt als Galionsfigur der Kin-Selection (Verwandten-Selektion) unter den Soziobiologen. Doch nun hat er sich explizit vom egoistischen Gen verabschiedet und sich wieder der klassischen Evolutionstheorie zugewandt. In seinem Werk „The Social Conquest Of The Earth“ versucht er zu zeigen, dass die klassische Evolutionstheorie völlig ausreicht, um Phänomene wie soziale Lebensformen und altruistisches Verhalten zu erklären, währenddessen die Kin-Selection hier eher Probleme aufwirft als sie zu lösen. Vor allem bei den Termiten scheint das Modell zu versagen. Bei geklonten Organismen – mit der höchsten Verwandtschaftsrate  von 100% – hat man aber bisher interessanterweise noch keinen einzigen Fall von Eusozialität festgestellt.

Wenn man von einer Selektion auf verschiedenen Ebenen ausgeht (multilevel selection), dann ergibt sich unter bestimmten Voraussetzungen, dass die Selektion nicht mehr nur beim Individuum angreift, sondern auch bei der Gruppe, die mit anderen Gruppen um Ressourcen und Lebensräume konkurriert. Somit überlagert dann – abhängig von geeigneten Rahmenbedingungen – die Gruppenselektion die individuelle Selektion. Das Ergebnis ist die Entwicklung von Verhaltensweisen, die die Gruppe gegenüber anderen Gruppen fitter macht, wie Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung, Kooperation und Kommunikation. Und dieses Verhalten geht über bloße Verwandtschaftsverhältnisse weit hinaus und kann im Extremfall sogar die persönliche Fitness einschränken.

Während nach Wilson die Kin-Selection nur auf wenige Spezialfälle angewendet und daher nicht generalisiert werden kann, ist die klassische Standard-Theorie der Evolution offenbar in der Lage, alle Fälle abzudecken. In einigen Fällen sind beide Erklärungsmodelle gleichwertig, doch meistens verliert sich die Kin-Selection in unnötigen Abstraktionen, sodass sie an Relevanz und Unmittelbarkeit einbüßt. Sie zäumt das Pferd von der falschen Seite auf, indem sie von einem hypothetischen Rechenmodell ausgeht, und dieses über die biotischen Phänomene stülpt, anstatt von den Beobachtungen auszugehen, um einen passenden Algorithmus dafür zu entwickeln.

Die natürliche Selektion ist in der Regel mehrstufig: Sie wirkt auf Gene, die die biologische Organisation in mehr als nur einer Ebene bestimmen. Es geht dabei um das Verhältnis von Zelle zu Organismus oder von Organismus zu Kolonie. Das extremste Beispiel für die Selektion auf mehreren Ebenen ist ein Tumor. Krebszellen entziehen sich in ihrem Wachstum den Beschränkungen der höheren Organisationsstufe, sodass der Organismus stirbt. Gelingt ihm jedoch die Kontrolle, bleibt er am Leben.

Den Schlüssel zur „conditio humana“  findet Wilson nicht in der Evolution des Menschen, sondern schon viel früher – bereits bei der Entstehung von sozialem Verhalten im Tierreich. Allerdings liegt darin auch ein Problem, denn komplexe soziale Systeme sind selten. Wenn sie sich aber einmal etabliert haben, scheinen die Vorteile gewaltig zu sein. So überflügeln staatenbildende Insekten andere Kerbtiere in Anzahl, Biomasse und Einfluss auf ihre Umwelt gewaltig.

Der Ursprung der Eusozialität im Tierreich scheint vor allem mit dem Vorhandensein von einem Nest gekoppelt zu sein. Beim Menschen war es vermutlich die Feuerstelle. Zuerst kommt die Brutpflege, dann ein behütetes Nest, später bleiben plötzlich mehrere Generationen im Nest und beginnen mit Arbeitsteilung – auch in Hinblick auf die Fortpflanzung. Evolutiv nötig ist dafür primär nur eine einzige Mutation, nämlich der Ausfall des Gens, das für die Nestflucht (die Auswanderung der neuen Generation) verantwortlich zeichnet. So entwickeln sich soziale Gruppen, die mit anderen Gruppen wetteifern, wodurch ein evolutionärer Druck auch auf die Gruppe als Gesamtheit entsteht.

Das bisherige Modell geht davon aus, dass die Kin-Selection Gruppen zusammenschweißt, weil sie mehr oder weniger miteinander verwandt sind. Wilson widerspricht dem, indem er ausführt, dass staatenbildende Insekten evolutionär als Superorganismen funktionieren. Alle Individuen des Staates sind phänotypische Extensionen der Königin wie die Zellen eines Körpers, sodass die Evolution nur bei ihr angreift. Die genetischen Differenzen zwischen den Individuen einer Kolonie sind sogar ein Vorteil, denn sie bilden einen Schutz vor epidemischen Krankheiten. Ein klassisches Evolutionsmodell, das ohne Verwandtschaftsmathematik auskommt. Schon Darwin deutete in The Origin of Species an, dass Selektion wahrscheinlich auch bei Gruppen angreifen kann.

Mit der Entstehung von Arbeitsteilung scheint der Punkt ohne Wiederkehr erreicht zu sein; ab hier gibt es offenbar kein Zurück mehr. Die Eusozialität ist nun stabil: wir stehen zusammen oder wir fallen zusammen.

In Kolonien, die sich aus unterschiedlichen, authentischen Individuen zusammensetzen – und nicht aus phänotypischen Extensionen einer Königin – fördert die Selektion selbstsüchtiges Verhalten. Auf der anderen Seite fördert die Gruppenselektion – wenn mehrere Gruppen in Konkurrenz zueinander stehen – den Altruismus unter den Gruppenmitgliedern. In diesem Spannungsverhältnis steht auch der Mensch.

Allerdings kann die menschliche Natur weder auf die Gene reduziert werden, noch können alle kulturellen Universalien mit ihrer Hilfe erklärt werden. Sie beruht vielmehr auf epigenetischen Regeln. Daher ist der Großteil des Verhaltens von Menschen nicht wie ein Reflex fest verdrahtet, sondern erlernt, auch wenn der Mensch darauf genetisch „vorbereitet“ ist. Als Folge ergibt sich die „Gen-Kultur-Koevolution“. Das bedeutet nicht, dass der Mensch völlig frei von seiner natürlichen Basis ist, aber die möglichen Freiheitsgrade haben sich vervielfacht. Zugleich drängt die kulturelle Evolution  zweifellos die genetische Evolution in den Hintergrund. Trotzdem gibt es dabei plastische und unplastische Elemente: Keine zwei Personen haben die gleichen Fingerabdrücke. Im Gegensatz dazu schreiben die Gene immer exakt fünf Finger vor.

Wilsons Kulturbegriff lässt sich in folgendem Satz zusammenfassen: Eine kulturelle Eigenheit ist ein Verhalten, dass entweder in einer Gruppe entwickelt oder von einer anderen Gruppe übernommen wird, um sie dann in der eigenen Gruppe zu pflegen und weiterzugeben. Das psychische Innenleben macht den Menschen aber einmalig und besonders: Stirbt ein Mensch, geht ein ganzer Kosmos verloren.

Doch was war die treibende Kraft für die Entwicklung der menschlichen Kultur? Laut Wilson war es die Gruppenselektion. Gruppen, deren Mitglieder die Intentionen anderer erahnen konnten und bereit zur Kooperation waren, hatten einen enormen evolutiven Vorteil gegenüber anderen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Wie bereits Darwin vermutete, passen Sprache und ihre basalen Mechanismen deshalb so gut zusammen, weil sich die Sprache dem menschlichen Gehirn anpasste, und nicht umgekehrt. Für Wilson sind es die Feinheiten der Gen-Kultur-Koevolution, die uns ein fundamentales Verständnis der „conditio humana“ liefern können.

Ein Dilemma, das aus der Evolution auf mehreren Ebenen ergibt, spiegelt sich in den Begriffen „gut“ und „böse“ wider.  Individuelle Selektion und Gruppenselektion greifen beide prinzipiell auch beim Einzelwesen an, treiben aber in entgegengesetzte Richtungen. Daraus ergibt sich die eiserne Regel in der sozialen Evolution: Eigennützige Individuen setzten sich gegenüber uneigennützigen durch, währenddessen altruistische Gruppen sich gegenüber Assoziationen von selbstsüchtigen Eigenbrötlern behaupten. Wenn in der menschlichen Evolution die Gruppenselektion dominiert hätte, würden unsere Gesellschaften Insektenkolonien gleichen. Aber der Mensch ist auch kein „homo oeconomicus“, der ausschließlich auf den eigenen Nutzen fixiert ist.

Verwandtenselektion ist nach Wilson nicht der Schlüssel für die evolutionäre Dynamik hin zur Eusozialität. Was wirklich zählt, ist eine natürliche (sprich ererbte) Neigung Allianzen und Netzwerke zu bilden, Informationen auszutauschen, aber auch Verrat zu üben.

Ernst Fehr und Simon Gächter haben das Problem 2002 wie folgt umrissen: „Menschliche Kooperation ist ein evolutionäres Rätsel. Anders als alle anderen Lebewesen kooperieren Menschen häufig mit genetisch nicht verwandten Fremden, häufig in großen Gruppen, mit Menschen, denen sie nie wieder begegnen werden, und selbst wenn der Gewinn in Hinsicht auf Fortpflanzung gering ausfällt oder ganz fehlt. Als Erklärung für diese Kooperationsmuster taugen weder die Evolutionstheorie der Verwandtenselektion noch die egoistischen Motive, die mit der Zeichentheorie oder der Theorie des reziproken Altruismus assoziiert werden.“

Wilson wirft in seinem aktuellen Buch Fragen auf, die lange Zeit als Tabu galten. Einigen geht er sicher zu weit, wenn er Kunst, Kultur und Ethik, aber auch die Religion (Zitat: Religiöser Glaube ist die unbemerkte Falle, die in der biologischen Geschichte unserer Art unvermeidbar ist. […] Die Menschheit verdient besseres.) von der Perspektive der Evolutionstheorie aus beleuchtet, aber das ist meiner Meinung nach durchaus legitim.

Immerhin versucht er Lösungen anzubieten, indem er auf altbewährte Modelle zurückgreift. Damit hat er international Empörung in der „science community“ der Soziobiologen ausgelöst. Wie immer man zu seinen Aussagen stehen mag, eines zeichnet sich immer klarer ab: die gängigen Evolutionsmodelle greifen zu kurz, sie erfassen nicht die ganze belebte Wirklichkeit. So lassen sie sich auf viele Phänomene der Natur nur eingeschränkt anwenden. Zudem tauchen immer wieder Instanzen auf, die die Verwandtenselektionstheorie explizit ausschließt. Nicht, dass ich der Meinung wäre, dass jede negative Instanz eine Theorie automatisch obsolet macht, das wäre unpragmatisch “das Kind mit dem Bade ausschütten“. Eine Widerlegung ist auch nicht immer eindeutig. Wenn sich aber die Widersprüche gegenüber der Empirie häufen, sollte man sich doch Gedanken machen. Insofern ist das Buch Wilsons eine wichtige Anregung, um sich mit Problemen und Lösungsansätzen der Evolutionsbiologie neu und unvoreingenommen auseinander zu setzen. Das letzte Wort ist hier sicher nicht gesprochen.
 
 
 
 
Edward O. Wilson
The Social Conquest Of The Earth
Liveright Publishing Corporation
New York and London, 2012
 
 
 

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