Wer kennt es nicht, das
Argument: Jeder glaubt gewisse unbewiesene Grundannahmen, auchWissenschaftler und Atheisten, daher sind auch sie im Grunde Gläubige. Dies
ist natürlich eine theologische Verwendung des Begriffs „glauben“, der sich auf
den epistemischen Gebrauch nicht übertragen lässt. Im theologischen Kontext
heißt „glauben“ soviel wie „sehr überzeugt sein von, fest vertrauen auf,
unerschütterlich festhalten an“. Die säkulare Bedeutung ist aber deutlich
schwächer und sagt nur soviel wie „nicht genau wissen, zurzeit für richtig
halten, als zutreffend annehmen“. Es handelt sich um die Differenz zwischen
„belief“ und „faith“ im Englischen. Beide Bedeutungen werden im Deutschen
leider mit nur einem Wort wieder gegeben.
Dagegen schrieb Hans Kelsen
in seinem Buch an, und der Titel ist dabei Programm: Die Schrift befasst sich
in 14. Kapiteln ausführlich mit der Fehlinterpretation von säkular-humanistischen
Strömungen der Moderne als neue religiöse Bewegungen, die in der christlichen
Tradition stehen und geistig auf jüdisch-christlichen Grundlagen ruhen, auch
wenn oder gerade weil sie sich gegen diese wenden. Diese Streitschrift von Hans
Kelsen, dem Mitschöpfer der österreichischen Bundesverfassung von 1920, wurde von ihm allerdings im Jahre 1964 vor der
Drucklegung zurückgezogen. Das Hans-Kelsen-Institut in Wien hat sich nun
entschlossen, das interessante Werk posthum zu veröffentlichen.
Detailreich und fundiert
wandert Kelsen durch die Philosophiegeschichte der Aufklärung und deren
Vereinnahmung durch christliche Theologen und Philosophen, die er als unhaltbar
entlarvt. Er weist zum Beispiel nach, dass Eschatologie nichts mit
Fortschrittsdenken zu tun hat und dass scheinbare Parallelen auf der
Fehldeutung und dem Missverständnis von Begriffen beruhen. Die Vergleiche von
theologischen Konzepten mit aufgeklärter Philosophie sind konstruiert und
hinken gewaltig. Es zeugt zum Beispiel von völliger Unkenntnis der
Wissenschaft, wenn diese als eine moderne Form der „Gnosis“ interpretiert wird.
Vor allem aber wendet sich Kelsen gegen die Theologisierung der Geschichte, die
überall eine Tendenz auf ein religiöses Ziel hin oder eine eschatologische
Vollendung zu erkennen glaubt und dabei versucht, alle säkularen Strömungen als
„christliche“ Bewegungen zu vereinnahmen bzw. umzudeuten. Er geht dabei vor
allem chronologisch vor; nach allgemeinen Kapiteln zur Parallelismuskritik und
zur Fortschrittsdoktrin beginnt er bei Augustinus, streift die englischen und
französischen Aufklärer und schreitet bis in seine Gegenwart voran.
Wie absurd und
selbstdisqualifizierend die Argumente der theologisch motivierten Autoren dabei
sind, zeigt als ein Beispiel unter vielen das Zitat von Sertillanges allzu
deutlich (Seite 194): Marx hängt bewiesenermaßen von der christlichen Lehre
ab. Die Tatsache, dass er den Glauben bekämpft, ändert nichts daran. Wir sehen
also, Anti-Christentum ist nichtsdestotrotz Christentum. Da hilft es auch
nichts, wenn Heidegger festhält (Seite 250): Jede Auslegung muss darauf pochen,
unvermerkt Eigenes aus ihrer Sache dazugeben können. Diese Beigabe ist
dasjenige, was der Laie, gemessen an dem, was er ohne Auslegung für den Inhalt
des Textes hält, notwendig als Hineindeuten und Willkür bemängelt. Offensichtlich
ist hier der so genannte „Laie“ im Recht, dieser Standpunkt kann der
Kritik nicht standhalten.
Gegen andere Behauptungen
unterscheiden sich säkulare Weltzugänge von religiösen Deutungen fundamental.
Das beginnt schon beim Frageverbot in Bereichen der Theologie, also bei der
dogmatischen Zensur. Aber auch bei der Begründung von Ethik, bei der Verwendung
des Begriffs „Glauben“, bei der Welt- und Geschichtsdeutung und bei vielen
anderen Punkten sind die Zugänge inkommensurabel, weil sie jeweils von einer
völlig anderen Basis ausgehen. Der Säkularismus nimmt nämlich seinen
Ausgangspunkt vom Menschen und nicht von irgendeinem Gott. Einer der
Schlüsselsätze Kelsens lautet daher (Seite 269): Es kann wohl keinen Zweifel
geben, dass die modernen Demokratien Hand in Hand mit einer Emanzipation von
Religion einhergehen.
Hans Kelsen, der „Jurist des 20. Jahrhunderts", entstammte einer
deutschsprachigen jüdischen Familie in Prag, woselbst er 1881 geboren ist,
wuchs aber in Wien auf. 1905 konvertierte er aus pragmatischen Gründen zum Katholizismus,
1912 wechselte er zum Augsburger Protestantismus. Er studierte in Wien und
Heidelberg Rechtswissenschaften und wurde 1917 Professor für Recht an der
Universität Wien. Nach der Gründung der Republik Deutschösterreich wurde Kelsen
im März 1919 federführend mit der Ausarbeitung der Verfassung des neuen Staates
beauftragt, die in ihren Grundzügen bis heute gültig ist. Im selben Jahr wurde
Kelsen – als Parteiunabhängiger – Mitglied des Österreichischen
Verfassungsgerichtshofes. 1930 verließ Kelsen Österreich aus politischen
Gründen und gelangte über Umwege 1940 schließlich in die Vereinigten Staaten,
wo er ab 1945 als Professor für Politikwissenschaften in Berkeley lehrte. Dort
verfasste er auch die Streitschrift „Secular Religion“. Nach 1945 wurde er
Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, kam aber nicht nach
Österreich zurück. Er starb 1973 in Orinda bei Berkeley/Kalifornien.
Kelsens Bestrebungen, das Recht einer formalen Analyse zu unterziehen,
waren prägend für den deutschsprachigen Raum. Aus methodologischen Gründen
wendete er sich strikt gegen das „Naturrecht“ und begründete das positive
Rechtsverständnis mit seiner Forderung nach einer „reinen“ Rechtslehre. Berühmt
ist auch sein heute immer noch relevanter Kommentar zum Recht der Vereinten
Nationen. Als der Begründer der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit verfolgte
er den Gedanken, dass die Rechtsgebung durch ein unabhängiges Gericht
kontrollieren werden soll, um Rechtssicherheit herzustellen. Damit kann eine
einheitliche Rechtsanwendung gewährleistet und eine Verstrickung in rechtliche
Widersprüche verhindert werden. Es ging ihm dabei vor allem auch um die
Verhinderung von Willkür und von anlassbezogener Gesetzgebung, wie es zum
Beispiel unter der Regierung Berlusconi gang und gäbe gewesen ist.
Das Buch ist nicht nur
wegen seiner fundierten Zusammenfassung der geistes- und kulturgeschichtlichen
Entwicklungen der Neuzeit lesenswert, es ist auch ein Plädoyer für eine
sekulare Weltdeutung ohne jede Rückbindung (Religion), die sich einem
rationalen Zugang zu allen Fragen verschreibt und dabei nicht auf eine höhere
Macht vertraut. Er schließt sein Buch mit dem viel sagenden Satz (Seite 271): Wissenschaft
kann nur beschreiben und erklären; sie kann die Realität nicht rechtfertigen.
Sie hat die innewohnende Neigung unabhängig von Politik zu sein, und kann in
der Beschreibung und Erklärung seiner Gegenstände – als ein rationales und
objektiviertes Verständnis der Wirklichkeit – nicht von der Existenz einer
transzendenten Autorität jenseits aller menschlichen Erfahrung ausgehen.
Hans Kelsen
Secular Religion
A Polemic against the
Misinterpretation of Modern Social Philosophy, Science and Politics as „New
Religion“
Herausgegeben von Robert
Walter, Clemens Jabloner und Klaus Zeleny (Hans-Kelsen-Insitut Wien)
Springer Verlag, Wien 2012
294 Seiten, ISBN
978-3-7091-0765-2
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