Edward O. Wilson, der Doyen der
Evolutionsbiologie und leidenschaftlicher Ameisenforscher, hat mit seinem neuen
Buch für große Aufregung unter den Evolutionsbiologen gesorgt. Galt er doch bis
jetzt als Galionsfigur der Kin-Selection (Verwandten-Selektion) unter den
Soziobiologen. Doch nun hat er sich explizit vom egoistischen Gen verabschiedet
und sich wieder der klassischen Evolutionstheorie zugewandt. In seinem Werk
„The Social Conquest Of The Earth“ versucht er zu zeigen, dass die klassische
Evolutionstheorie völlig ausreicht, um Phänomene wie soziale Lebensformen und
altruistisches Verhalten zu erklären, währenddessen die Kin-Selection hier eher
Probleme aufwirft als sie zu lösen. Vor allem bei den Termiten scheint das
Modell zu versagen. Bei geklonten Organismen – mit der höchsten
Verwandtschaftsrate von 100% – hat man aber
bisher interessanterweise noch keinen einzigen Fall von Eusozialität
festgestellt.
Wenn man von einer Selektion auf
verschiedenen Ebenen ausgeht (multilevel selection), dann ergibt sich unter
bestimmten Voraussetzungen, dass die Selektion nicht mehr nur beim Individuum
angreift, sondern auch bei der Gruppe, die mit anderen Gruppen um Ressourcen
und Lebensräume konkurriert. Somit überlagert dann – abhängig von geeigneten Rahmenbedingungen
– die Gruppenselektion die individuelle Selektion. Das Ergebnis ist die
Entwicklung von Verhaltensweisen, die die Gruppe gegenüber anderen Gruppen
fitter macht, wie Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung,
Kooperation und Kommunikation. Und dieses Verhalten geht über bloße
Verwandtschaftsverhältnisse weit hinaus und kann im Extremfall sogar die
persönliche Fitness einschränken.
Während nach Wilson die Kin-Selection nur
auf wenige Spezialfälle angewendet und daher nicht generalisiert werden kann,
ist die klassische Standard-Theorie der Evolution offenbar in der Lage, alle
Fälle abzudecken. In einigen Fällen sind beide Erklärungsmodelle gleichwertig,
doch meistens verliert sich die Kin-Selection in unnötigen Abstraktionen,
sodass sie an Relevanz und Unmittelbarkeit einbüßt. Sie zäumt das Pferd von der
falschen Seite auf, indem sie von einem hypothetischen Rechenmodell ausgeht,
und dieses über die biotischen Phänomene stülpt, anstatt von den Beobachtungen
auszugehen, um einen passenden Algorithmus dafür zu entwickeln.
Die natürliche Selektion ist in der Regel
mehrstufig: Sie wirkt auf Gene, die die biologische Organisation in mehr als nur
einer Ebene bestimmen. Es geht dabei um das Verhältnis von Zelle zu Organismus
oder von Organismus zu Kolonie. Das extremste Beispiel für die Selektion auf
mehreren Ebenen ist ein Tumor. Krebszellen entziehen sich in ihrem Wachstum den
Beschränkungen der höheren Organisationsstufe, sodass der Organismus stirbt. Gelingt
ihm jedoch die Kontrolle, bleibt er am Leben.
Den Schlüssel zur „conditio humana“ findet Wilson nicht in der Evolution des
Menschen, sondern schon viel früher – bereits bei der Entstehung von sozialem
Verhalten im Tierreich. Allerdings liegt darin auch ein Problem, denn komplexe
soziale Systeme sind selten. Wenn sie sich aber einmal etabliert haben,
scheinen die Vorteile gewaltig zu sein. So überflügeln staatenbildende Insekten
andere Kerbtiere in Anzahl, Biomasse und Einfluss auf ihre Umwelt gewaltig.
Der Ursprung der Eusozialität im Tierreich
scheint vor allem mit dem Vorhandensein von einem Nest gekoppelt zu sein. Beim
Menschen war es vermutlich die Feuerstelle. Zuerst kommt die Brutpflege, dann
ein behütetes Nest, später bleiben plötzlich mehrere Generationen im Nest und
beginnen mit Arbeitsteilung – auch in Hinblick auf die Fortpflanzung. Evolutiv
nötig ist dafür primär nur eine einzige Mutation, nämlich der Ausfall des Gens,
das für die Nestflucht (die Auswanderung der neuen Generation) verantwortlich
zeichnet. So entwickeln sich soziale Gruppen, die mit anderen Gruppen
wetteifern, wodurch ein evolutionärer Druck auch auf die Gruppe als Gesamtheit entsteht.
Das bisherige Modell geht davon aus, dass
die Kin-Selection Gruppen zusammenschweißt, weil sie mehr oder weniger
miteinander verwandt sind. Wilson widerspricht dem, indem er ausführt, dass
staatenbildende Insekten evolutionär als Superorganismen funktionieren. Alle
Individuen des Staates sind phänotypische Extensionen der Königin wie die
Zellen eines Körpers, sodass die Evolution nur bei ihr angreift. Die
genetischen Differenzen zwischen den Individuen einer Kolonie sind sogar ein
Vorteil, denn sie bilden einen Schutz vor epidemischen Krankheiten. Ein
klassisches Evolutionsmodell, das ohne Verwandtschaftsmathematik auskommt.
Schon Darwin deutete in The Origin of
Species an, dass Selektion wahrscheinlich auch bei Gruppen angreifen kann.
Mit der Entstehung von Arbeitsteilung
scheint der Punkt ohne Wiederkehr erreicht zu sein; ab hier gibt es offenbar kein
Zurück mehr. Die Eusozialität ist nun stabil: wir stehen zusammen oder wir fallen zusammen.
In Kolonien, die sich aus
unterschiedlichen, authentischen Individuen zusammensetzen – und nicht aus
phänotypischen Extensionen einer Königin – fördert die Selektion
selbstsüchtiges Verhalten. Auf der anderen Seite fördert die Gruppenselektion –
wenn mehrere Gruppen in Konkurrenz zueinander stehen – den Altruismus unter den
Gruppenmitgliedern. In diesem Spannungsverhältnis steht auch der Mensch.
Allerdings kann die menschliche Natur weder
auf die Gene reduziert werden, noch können alle kulturellen Universalien mit
ihrer Hilfe erklärt werden. Sie beruht vielmehr auf epigenetischen Regeln.
Daher ist der Großteil des Verhaltens von Menschen nicht wie ein Reflex fest
verdrahtet, sondern erlernt, auch wenn der Mensch darauf genetisch
„vorbereitet“ ist. Als Folge ergibt sich die „Gen-Kultur-Koevolution“. Das
bedeutet nicht, dass der Mensch völlig frei von seiner natürlichen Basis ist,
aber die möglichen Freiheitsgrade haben sich vervielfacht. Zugleich drängt die
kulturelle Evolution zweifellos die
genetische Evolution in den Hintergrund. Trotzdem gibt es dabei plastische und
unplastische Elemente: Keine zwei
Personen haben die gleichen Fingerabdrücke. Im Gegensatz dazu schreiben die
Gene immer exakt fünf Finger vor.
Wilsons Kulturbegriff lässt sich in
folgendem Satz zusammenfassen: Eine kulturelle Eigenheit ist ein Verhalten,
dass entweder in einer Gruppe entwickelt oder von einer anderen Gruppe
übernommen wird, um sie dann in der eigenen Gruppe zu pflegen und
weiterzugeben. Das psychische Innenleben macht den Menschen aber einmalig und
besonders: Stirbt ein Mensch, geht ein ganzer Kosmos verloren.
Doch was war die treibende Kraft für die
Entwicklung der menschlichen Kultur? Laut Wilson war es die Gruppenselektion.
Gruppen, deren Mitglieder die Intentionen anderer erahnen konnten und bereit
zur Kooperation waren, hatten einen enormen evolutiven Vorteil gegenüber
anderen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Wie bereits
Darwin vermutete, passen Sprache und ihre basalen Mechanismen deshalb so gut
zusammen, weil sich die Sprache dem menschlichen Gehirn anpasste, und nicht
umgekehrt. Für Wilson sind es die Feinheiten der Gen-Kultur-Koevolution, die
uns ein fundamentales Verständnis der „conditio humana“ liefern können.
Ein Dilemma, das aus der Evolution auf
mehreren Ebenen ergibt, spiegelt sich in den Begriffen „gut“ und „böse“ wider. Individuelle Selektion und Gruppenselektion
greifen beide prinzipiell auch beim Einzelwesen an, treiben aber in
entgegengesetzte Richtungen. Daraus ergibt sich die eiserne Regel in der
sozialen Evolution: Eigennützige Individuen setzten sich gegenüber
uneigennützigen durch, währenddessen altruistische Gruppen sich gegenüber Assoziationen
von selbstsüchtigen Eigenbrötlern behaupten. Wenn in der menschlichen Evolution
die Gruppenselektion dominiert hätte, würden unsere Gesellschaften
Insektenkolonien gleichen. Aber der Mensch ist auch kein „homo oeconomicus“,
der ausschließlich auf den eigenen Nutzen fixiert ist.
Verwandtenselektion ist nach Wilson nicht
der Schlüssel für die evolutionäre Dynamik hin zur Eusozialität. Was wirklich
zählt, ist eine natürliche (sprich ererbte) Neigung Allianzen und Netzwerke zu
bilden, Informationen auszutauschen, aber auch Verrat zu üben.
Ernst Fehr und Simon Gächter haben das
Problem 2002 wie folgt umrissen: „Menschliche Kooperation ist ein evolutionäres
Rätsel. Anders als alle anderen Lebewesen kooperieren Menschen häufig mit
genetisch nicht verwandten Fremden, häufig in großen Gruppen, mit Menschen,
denen sie nie wieder begegnen werden, und selbst wenn der Gewinn in Hinsicht
auf Fortpflanzung gering ausfällt oder ganz fehlt. Als Erklärung für diese
Kooperationsmuster taugen weder die Evolutionstheorie der Verwandtenselektion
noch die egoistischen Motive, die mit der Zeichentheorie oder der Theorie des
reziproken Altruismus assoziiert werden.“
Wilson wirft in seinem aktuellen Buch
Fragen auf, die lange Zeit als Tabu galten. Einigen geht er sicher zu weit,
wenn er Kunst, Kultur und Ethik, aber auch die Religion (Zitat: Religiöser Glaube ist die unbemerkte Falle,
die in der biologischen Geschichte unserer Art unvermeidbar ist. […] Die
Menschheit verdient besseres.) von der Perspektive der Evolutionstheorie
aus beleuchtet, aber das ist meiner Meinung nach durchaus legitim.
Immerhin versucht er Lösungen anzubieten,
indem er auf altbewährte Modelle zurückgreift. Damit hat er international
Empörung in der „science community“ der Soziobiologen ausgelöst. Wie immer man
zu seinen Aussagen stehen mag, eines zeichnet sich immer klarer ab: die
gängigen Evolutionsmodelle greifen zu kurz, sie erfassen nicht die ganze
belebte Wirklichkeit. So lassen sie sich auf viele Phänomene der Natur nur
eingeschränkt anwenden. Zudem tauchen immer wieder Instanzen auf, die die
Verwandtenselektionstheorie explizit ausschließt. Nicht, dass ich der Meinung
wäre, dass jede negative Instanz eine Theorie automatisch obsolet macht, das
wäre unpragmatisch “das Kind mit dem Bade ausschütten“. Eine Widerlegung ist
auch nicht immer eindeutig. Wenn sich aber die Widersprüche gegenüber der
Empirie häufen, sollte man sich doch Gedanken machen. Insofern ist das Buch
Wilsons eine wichtige Anregung, um sich mit Problemen und Lösungsansätzen der
Evolutionsbiologie neu und unvoreingenommen auseinander zu setzen. Das letzte
Wort ist hier sicher nicht gesprochen.
Edward O.
Wilson
The Social Conquest Of The Earth
Liveright Publishing Corporation
New York and London, 2012
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