Thursday, March 16, 2017

Sorites: Das Haufenparadoxon

Der Sorites – oder auch Haufen-Paradoxon – gehört zu den klassischen Problemen der Logik. Der Begriff selbst leitet sich vom griechischen Wort σωρος für „Haufen“ ab. Es handelt sich dabei um einen Kettenschluss, der – auf einen vagen Begriff wie eben „Haufen“ angewandt – offenbar keinen Sinn ergibt bzw. zu einem Widerspruch führt. Wer das Haufenparadox zuerst formuliert hat, ist umstritten. Zumeist wird Zenon von Elea genannt. Es ist aber anzunehmen, dass das Paradoxon in mündlicher Überlieferung wesentlich älter ist.
Man kann den Sorites progressiv (1) oder regressiv (2) anwenden:
(1)    Ein Sandkorn macht noch keinen Haufen. Zwei Sandkörner machen noch keinen Haufen. Drei Sandkörner machen noch keinen Haufen u.s.w.
Ergo: Beliebig viele Sandkörner machen keinen Haufen!
(2)    Ein Haufen, dem ein Sandkorn genommen wird, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem zwei Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen. Ein Haufen, dem drei Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen u.s.w.
Ergo: Ein Haufen, dem alle Sandkörner genommen werden, bleibt dennoch ein Haufen!
Offensichtlich führen beide Kettenschlüsse zu Widersprüchen. Wo liegt also das Problem bzw. der Fehlschluss?
Eine Möglichkeit, die Paradoxie zu umgehen, besteht darin, eine genaue Definition anzubieten, ab wie vielen Sandkörnern man von einem Haufen sprechen kann. Das Problem verlagert sich jetzt aber nur, denn es ist unmöglich, eine bestimmte Zahl anzugeben. Die Grenzziehung ist immer willkürlich und daher nicht stringent, also strittig. Dennoch wird genau diese Strategie in der Wissenschaft häufig angewendet, um vage Begriffe zu eliminieren. Aus pragmatischer Sicht kann das also durchaus sinnvoll sein, sofern man sich in der „scientific community“ auf eine allgemein anerkannte Definition einigen kann, um mit den nun exakten – wenn auch arbiträren – Begriffen in der Folge wissenschaftlich arbeiten zu können. Doch logisch ist diese rein pragmatische Lösung dennoch unbefriedigend.
Eine sehr spitzfindige Lösung stammt von Ludwig Wittgenstein. Er geht davon aus, dass der Begriff Haufen in der Alltagssprache immer nur dann zur Anwendung kommt, wenn man nicht in der Lage ist, die Zahl der Elemente anzugeben. Sobald man jedoch eine genaue Zahl angibt, kann man nicht mehr von einem Haufen sprechen, da das Wort dann inadäquat ist, weil es impliziert, dass es sich um eine unklare Anzahl von Elementen handelt. Prima facie wirkt das Argument einleuchtend, aber löst es das Problem mit dem Kettenschluss wirklich? Mir scheint, das Argument ist nur in der deutschen Sprache anwendbar, da hier „Haufen“ zwei semantische Verwendungen hat: einerseits als Bezeichnung für ein physisches Gebilde (Phänomen) und andererseits als unbestimmtes Zahlwort (umgangssprachlich: ein Haufen Fragen). Wittgenstein vermischt in seinem Argument beide Semantiken.
Ein weiterer Ansatz ist, dass man schon einem einzelnen Sandkorn die Eigenschaft des Haufens zuerkennt. Damit wäre zwar der logische Widerspruch beseitigt, aber der Ansatz ist extrem kontraintuitiv und daher sehr unbefriedigend, wenn auch formal möglich.
Mehrwertige Logiksysteme – und insbesondere die Fuzzylogic – lösen scheinbar das Sorites-Problem, aber dafür handelt man sich viele andere formale Probleme ein. Somit ist nicht ganz klar, ob der Ansatz wirklich zielführend ist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass man, um die Fuzzylogic zu formulieren, erst wieder auf die klassische zweiwertige Logik als Metalogik zurückgreifen muss. Sie scheint daher die grundlegendere Logik zu sein. Die Fuzzylogik kann also nur als Erweiterung oder Ergänzung dieser für Spezialanwendungen betrachtet werden und keinen Universalanspruch erheben.
Mein Zugang zu diesem Problem ist nun folgender: Ein Haufen ist nicht durch die Anzahl der Elemente definiert, sondern durch deren Anordnung. Es handelt sich somit um eine Ansammlung von Elementen auf einem begrenzten Raum. Daher ist klar: durch Vermehrung der Sandkörner entsteht nicht zwangsläufig ein Haufen. Diese zusätzliche Eigenschaft der Assoziation steckt nicht im Sandkorn, sondern in der Raumzeit. Ich kann beliebig viele Sandkörner gleichmäßig im Universum verteilen – damit vermeide ich die Entstehung eines Haufens. Der Haufen ist ein Emergenz, die erst durch eine bestimmte raumzeitliche Anordnung der Sandkörner entsteht, so wie eine Wolke aus Wasserdampf entstehen kann (aber nicht muss), oder wie sich ein Vogelschwarm bildet, wenn sich gewisse Singvögel plötzlich in Großgruppen auf Wanderschaft begeben.
Somit kann man logisch nicht ableiten, ab wann aus Elementen ein Haufen entsteht bzw. wann sich ein Haufen auflöst, weil es sich nicht um eine Eigenschaft seiner Elemente handelt, sondern um eine Eigenschaft der raumzeitlichen Verteilung. Oder anders ausgedrückt: Das Ganze kann mehr sein als die Summe seiner Teile. Die Eigenschaft des Haufens „emergiert“ aus den Elementen erst durch eine bestimmte rumzeitliche Assoziation. Diese Eigenschaft hat daher primär nichts mit dem Eigenschaften der Elemente zu tun, sondern ist ein Ergebnis einer großen Zahl, die unter Umständen eine bestimmte raumzeitliche Beziehung zueinander haben kann.
Die Eigenschaft des Haufens kann also nicht auf das einzelne Sandkorn angewendet werden und auch nicht umgekehrt. Daraus ergibt sich, dass der Kettenschluss (1) formallogisch gültig ist, da sich aus den Eigenschaften der Sandkörner nicht ableiten lässt, wann oder ob eventuell ein Haufen entsteht. Das ist eine unabhängige Eigenschaft, die nichts mit dem einzelnen Sandkorn zu tun hat. Die Eigenschaft des Haufens kommt nur unter bestimmten Rahmenbedingungen hinzu. Erst unter gewissen Umständen emergiert sozusagen ein Haufen aus einer Vielzahl von Elementen.
Beim regressiven Kettenschluss (2) bleibt also, nachdem hier argumentativ vom vagen Begriff „Haufen“ ausgegangen wird, das Polylemma, wann sich der Haufen auflöst. Dass er es tut, ist evident, allerdings lässt sich dafür kein exakter Punkt angeben. Das ist ein logisches Problem, das grundsätzlich allen vagen Begriffen inne wohnt.
Vagheit führt zu prinzipiellen Problemen. Vage Begriffe wie Haufen, Schwarm, Wolke, Berg etc. lassen sich nicht eindeutig definieren oder abgrenzen. Offensichtlich brauchen wir für unsere Kommunikation dringend vage Begriffe, da in dieser Welt vieles uneindeutig und im Fluss ist. Es gibt selten klare Grenzen, Übergänge sind stets fließend, der Essenzialismus ist eine Illusion.
Mein Lösungsansatz für den Sorites lautet also wie folgt: Die Sandkörner haben logisch nichts mit dem Haufen gemein, da sich der Begriff „Haufen“ nur auf eine bestimmte raumzeitliche Anordnung von beliebigen Elementen bezieht. Das hat keinerlei Einfluss auf die Elemente selbst. Daher ist die logische Verknüpfung vom Begriff „Haufen“ und seinen Elementen logisch nicht statthaft. Das Phänomen „Haufen“ ist eine Emergenz, die primär nichts mit seinen Elementen zu tun hat. Die Eigenschaft „Haufen zu sein“ ist völlig unabhängig von den Eigenschaften seiner Elemente.
Conclusio: Der Kettenschluss (1) ist gültig, weil sich aus der Vielzahl von Sandkörnern nicht zwangsläufig ein Haufen bildet. Der Kettenschluss (2) ist nicht gültig, weil bei der Prädikation keine semantischen Gemeinsamkeiten vorhanden sind, die logisch verknüpft werden könnten. Somit sind bereits die Prämissen unzulässig, weil sich das Phänomen „Haufen“ auf die raumzeitliche Konstellation bezieht und daher nichts mit den spezifischen Eigenschaften oder einer bestimmten Anzahl der einzelnen Elemente zu tun hat bzw. nicht auf diese zurück wirkt oder aus diesen abgeleitet werden kann.

Literatur:
Ulrich Pardey: Unscharfe Grenzen. Über die Haufen-Paradoxie, den Darwinismus und die rekursive Grammatik, Journal for General Philosophy of Science 12-2002, Volume 33, Issue 2, Springer, Berlin 2002, S. 323–348.
Richard M. Sainsbury: Paradoxien. Übersetzung von Vincent C. Müller, Reclam, Stuttgart 1993, 2. Aufl. 2001, S. 39–72.
Timothy Williamson: Vagueness. Routledge, London 1998.
William Poundstone: Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiter kommt. Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt, Reinbeck 1992.


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Wednesday, October 28, 2015

Biologie und Ethik der Homosexualität  

Moraltheologische Seminararbeit, Graz 1992  
(ergänzt und überarbeitet 2015)




Einleitung

Da es ums Thema Homosexualität geht, muss zuvor einmal eine Begriffsbestimmung erfolgen. Der Ausdruck ist eine Schöpfung des Arztes Karoly Maria Benkert. Das Wort selbst klammert zwar psychische Komponenten aus, da es ein Verhalten (behaviour) bezeichnet, wird aber zunehmend in einem umfassenderen Sinn gebraucht. Neben der griechischen Vorsilbe homo- für „gleich“ enthält der Begriff auch das lateinische Wort sexus (Abteilung, Geschlecht). Damit kommt der ganze Komplex „Geschlechtlichkeit“ ins Spiel. In den Wissenschaften differenziert man zunächst drei Arten davon: das biologische, das soziale und das psychische Geschlecht. Und beim scheinbar so eindeutigen biologischen Geschlecht lässt sich noch ein phänotypisches von einem genotypischen unterscheiden. Aber dazu später.
Vorwegschicken muss ich daher, dass ich den Begriff „homosexuell“ im Folgenden auf zwei Arten gebrauchen werde: einerseits im engen behavioristischen Sinn und andererseits in der umfassenderen – die Psyche des Menschen einschließenden – Bedeutung.

Prämissen

Zuerst eine Tatsachenfeststellung: es gibt zumindest ein Lebewesen, von dem gilt, es ist homosexuell. Folgt man dem augustinischen Grundsatz, dass alles das, was ist, auch gut ist, dann dürfte man aus christlich-theologischer Sicht Homosexualität eigentlich nicht negativ bewerten. Denn: Ex qua est omne quicquid est, in quantum est; quia in quantum est, quicquid est, bonum est (De vera religione).
Außerdem möchte ich vorausschicken, dass ich mich in diesem Beitrag hauptsächlich auf Volker Sommer (1990) stütze.

Aufbau

Nach der Einleitung werden im Hauptteil drei Aspekte der Homosexualität aufgegriffen: Einführend wird die Biologie der Homosexualität behandelt, dann wird auf die Entstehungstheorien eingegangen, im Anschluss folgt die Bewertung der Theologie. Der Schluss befasst sich allgemein mit den Argumenten pro und contra Homosexualität.  Nachgestellt wird ein persönliches Statement.

Außer Betracht

Unbeachtet bleiben zeitliche und örtliche Aspekte (sofern sie nicht für das Verständnis relevant sind). Außerdem werde ich neben der geschichtlichen und ethnologischen auch die juridische Dimension aussparen. Wer sich speziell mit der Geschichte der rechtlichen Beurteilung von Homosexualität befassen will, dem sei das Buch von Gisela Bleibtreu-Ehrenberg ans Herz gelegt: Homosexualität. Die Geschichte eines Vorurteils. Frankfurt 1978. Darin wird auch die Gesetzgebung behandelt.

Homosexualität

1.       Bestandsaufnahme
Lange Zeit galt die Ansicht, Homosexualität sei ausschließlich bei der Art Mensch – als eine Form der Entartung – zu finden. Es handle sich also um etwas Widernatürliches. Die moderne Verhaltensforschung belegt jedoch eindeutig, dass sämtliche unter den Menschen praktizierten Varianten homosexuellen Verhaltens auch im Tierreich vorkommen. Dass dies erst in den letzten Jahrzehnten (wenn man von der Antike absieht) langsam bekannt wird, lässt sich auf mangelnde Objektivität und Sorgfalt der Ethologen zurückführen, die mit der Vorgefassten Meinung an die Sache herangingen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und wenn solche Beobachtungen wirklich in den Protokollen notiert wurden, dann ließ man sie in der Regel als nicht relevante Ausnahmeerscheinung unter den Tisch fallen.
Demgegenüber ergaben 2000 Stunden Beobachtung bei 220 wilden Berggorillas in Ruanda insgesamt zehn sexuelle Weibchen/Weibchen-Akte. Wie lang müsste man wohl zweihundert Menschen folgen, bis es zu einem sexuellen Kontakt zwischen zwei Frauen kommt?
Um eine  kleine Bestandsaufnahme zu machen, möchte ich hier einige Belege homosexueller Spielarten unter Tieren aus der Verhaltensforschung vorstellen (nach Sommer 1990):
Bei fünf Arten von monogam lebenden Seemöwen wurden bisher lesbische Verbindungen beobachtet. Bei der südkalifornischen Art Larus occidentalis bestehen 8 bis 14 Prozent aller Paare aus zwei Weibchen. Beide verteidigen ein gemeinsames Territorium, bebalzen einander, bauen ein Nest und wechseln einander beim Brutgeschäft ab. In etwa 10 bis 20 Prozent der Fälle sind die Eier sogar befruchtet, was belegt, dass Monogamie nichts mit Treue zu tun hat.
Ein interessantes Beispiel liefert auch das Meerschweinchen (Cavia apera). In kleinen Gruppen bis zu etwa fünf Individuen beiderlei Geschlechts gelingt es dem ranghöchsten Männchen, alle Weibchen zu monopolisieren. Bei einer höheren Populationsdichte ist es dem Alpha-Männchen offenbar nicht mehr möglich, alle Weibchen zu monopolisieren, und es gibt daher mehrere Haaremsbesitzer nebeneinander.  In jedem Fall gehen die Nicht-Besitzer leer aus, weil sie den Besitzern unterlegen sind und daher keine Weibchen monopolisieren können. Etwa 10 Prozent aller Männchen entwickeln hier eindeutig homosexuelle Präferenzen. Sie adressieren ihre Interessensbekundungen – etwa mittels Anal-Schnuppern, Purr-Lauten und „Rumba“-Tanz – ausschließlich auf ein ganz bestimmtes anderes Männchen. In einem Experiment wurde ein solches Männchen in eine fremde Gruppe umgesetzt. Doch auch hier beschränkte es sich in seinem Werbeverhalten auf ein ganz bestimmtes anderes Männchen.
Die Universität Göttingen studierte seit dem Jahr 1977 das Verhalten der Leguren-Affen (Kasi johnii) in Rajasthan. Dabei wurden in 3000 Beobachtungsstunden von einer 15-köpfigen Haremsgruppe genau 524 lesbische Episoden registriert. Während des sechsjährigen Beobachtungszeitraums nahm jedes Weibchen der Gruppe sexuelle Kontakte zu anderen Weibchen auf. Das war eine entscheidende Beobachtung, denn die oft vertretene These, dass nur einige pathologische, hormonell irregeleitete Tiere ein solches Verhalten an den Tag legen, ist damit widerlegt.
Bei Bonobos oder Zwergschimpansen (Pan troglodytes paniscus), übrigens unsere nächsten Verwandten, sind sowohl in der Gefangenschaft – wie auch in der freien Natur – verschiedene homosexuelle Praktiken beobachtet werden. Sie streicheln einander gegenseitig ihre Genitalien und pressen sie in Erregung aneinander.
Die Rhesusaffen (Macaca mulatta) zeigen ein ausgeprägtes Vorspiel: Da gibt es „Schmatzen und Umkreisen“, „Küssen und Wegrennen“, „Nasenreiben“, „Verfolgungsjagden“ etc., die dann immer in einem Aufreiten mit erkennbarem Orgasmus enden. Bei Männchen wurde Analverkehr mit Ejakulation beobachtet. Oft folgt der Begegnung eine Umarmung.  Es drängt sich ein Vergleich mit menschlichem Sexualverhalten auf. Die Ähnlichkeiten bei Vor- und Nachspiel sind frappant. Zudem widerlegen diese Befunde die These, dass Homosexualität im Tierreich eine Ersatzhandlung sei und ausschließlich auftritt, wenn keine Partner des Gegengeschlechts verfügbar sind.
Sehr spielartenreich ist auch das homosexuelle Repertoir der Bärenmakaken (Macaca speciosa), das von der kalifornischen Stanford-University beschrieben wurde. Es umfasst mutuelle Stimulation der Geschlechtsteile mit Händen oder durch lecken und Saugen sowie auch Analverkehr. Besonders auffällig war die sexuell getönte Beziehung zwischen einem Alpha-Männchen und einem Heranwachsenden. Der Ältere verteidigte seinen Gefährten bei aggressiven Auseinandersetzungen, und der Jüngere kuschelte sich regelmäßig in das Bauchfell des Älteren, wobei das Alpha-Tier dessen Genitalien umfasste. Häufig begab sich der Ältere gleich nach der Begattung eines seiner Weibchen zu seinem Gespielen. Diese homosexuelle Beziehung drückt also nicht einen Mangel an Sex mit Weibchen aus, sondern weist eine stark emotionale Bindung aus.
Beim Menschen sind solche Untersuchungen ungleich schwieriger, da es sich um einen sehr intimen und subjektiven Bereich handelt. Behavioristische Methoden bilden zwar eine Basis, sparen aber wichtige psychische Aspekte der Sexualität aus. Trotzdem gibt es zurzeit immer mehr Literatur, die sich mit diesem Thema befasst.  Am bekanntesten sind die Erhebungen von Kinsey et al. (1934, 1949, 1953), da sie Pionierarbeiten auf diesem Gebiet darstellen. Sie machten damals die schockierende Feststellung, dass homosexuelles Verhalten unter Menschen weit häufiger anzutreffen ist, als bis dahin angenommen. Aus dieser Studie wurde die These abgeleitet, dass es ein sexuelles Kontinuum gibt. Grundsätzlich würden sich die Menschen gleichmäßig auf dieser Skala verteilen.
Was die Biologie ganz allgemein zum Thema Homosexualität zu sagen hat, fasst Alfred Kinsey ganz richtig so zusammen (1949): „Ob solches Erbe eine angemessene Basis dafür ist, irgendeine Aktivität als richtig oder falsch, sozial wünschenswert oder nicht-wünschenswert einzuschätzen, ist eine Frage, die wir nicht stellen, und die wir nie gestellt haben. Wir glauben jedoch, dass Sexualakte, die nachgewiesen zum stammesgeschichtlichen Erbe einer Spezies gehören, nicht als gegen die Natur gerichtet, biologisch unnatürlich, abnormal oder pervers eingestuft werden können.“ (Zitiert nach Sommer 1990)
2.       Entstehungstheorien
Viele Homosexuelle verwahren sich gegen Forschungen in Bezug auf die Ätiologie ihrer Veranlagung, da sie dahinter das Motiv wittern, letztendlich ihre Lebensform aus der Welt zu schaffen. Unabhängig davon bleibt die Sache von naturwissenschaftlichen Interesse, aus dem einfachen Grund: für Wissen selbst kann und darf es keine Zensur geben – wohl aber für die Anwendung von Wissen. Ethik kann sich niemals auf das Sein beziehen, sondern immer nur auf das Handeln.
2.1. Proximate Theorien
Proximate Theorien fragen nach den unmittelbaren Ursachen eines Phänomens. Ihre Methoden sind die Erfassung von Kausalzusammenhängen und die analytische Reduktion. Zugleich sind das auch  deren Hauptprobleme.
2.1.1.        Psychonanalyse
Am bekanntesten ist wohl die Theorie Sigmund Freuds, der von der Annahme ausgeht, dass aus einer bisexuellen Grundausstattung des Menschen ein heterosexuelles Zielstadium hervorgeht. Interessant an dieser Theorie ist einerseits, dass sich ein menschlicher Embryo am Anfang wirklich zwittrig (hermaphroditisch) darstellt, die Anlagen sind also zuerst für beide Entwicklungslinien noch offen. Erst durch hormonelle Steuerung werden die weiblichen Anteile rückgebildet und die männlich herausgeformt. Bleiben die spezifischen Hormone (vor allem Dihydrotestosteron und Anti-Müller-Hormon) aus oder sind die entsprechenden Rezeptoren defekt, so wird aus dem Embryo jedenfalls ein Mädchen (auch wenn er genotypisch männlich wäre, also ein Y-Chromosom besitzt). Man spricht daher auch von der primär weiblichen Geschlechtsausstattung des Menschen. Außerdem lässt sich die Theorie auch gut mit den Kinsey-Ergebnissen in Einklang bringen.
Im Detail besagt die Theorie Freuds, dass ein Knabe in der sogenannten phallischen Phase sein Interesse auf sein eigenes Genitale konzentriert. Beim normalen Knaben folgt auf dieses autoerotische Stadium die Zuwendung auf das andere Geschlecht in Form der Mutter. Bleibt dieser Schritt aus, so verharrt der Knabe im Narzissmus, fixiert sich auf den Penis und entwickelt sich homosexuell. Und die Folge daraus? Kastrationsangst. Sie entsteht angeblich durch die schreckliche Entdeckung, dass Mädchen keinen Penis haben. Was beim Jungen die postulierte Kastrationsangst, ist beim Mädchen in Analogie der Penisneid. Durch ihn wendet sie sich dem Vater zu. Fürchtet sie sich jedoch vor dem Penis, wird sie lesbisch.
Obwohl Freud ein Pionier auf seinem Gebiet war, gilt seine Theorie insofern als überholt, da seine Erfahrungen sehr schichtbezogen und nicht repräsentativ waren. Außerdem beruhen seine Aussagen und Begriffe oft auf Zirkelschlüssen, und sind daher weder veri- noch falsifizierbar. Somit handelt es sich eigentlich um metaphysische Modelle, die keine empirische Bedeutung haben.
2.1.2.        Prägung
Die Prägungstheorie, die auf der Instinkttheorie von Niko Tinbergen und Konrad Lorenz fußt, geht von einem amorphen sexuellen Trieb aus, der noch nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Erst in einer bestimmbaren, sensiblen Phase wird vom Jungtier sozusagen „erlernt“, worauf sich dieser Trieb richten soll. Man verwendet hier allerdings den Begriff „Prägung“, da dieser Prozess in der Regel irreversibel ist. In einer Studie vom Max-Plank-Institut für Verhaltensphysiologie (Schutz 1971) wird mit Erstaunen festgehalten: „Besonders interessant sind Erpel, die das Versuchsbiotop im Frühling verlassen, und im Herbst wieder mit demselben Männchenpartner zurückkehren. Auch die Homosexualität ist also überraschend stabil.“
Weiters wird festgestellt, dass homosexuelle Tiere immer auf die eigene Art geprägt sind und dass auch bei heterosexuellen Tieren konstitutiv ein Hang zur eigenen Art wesentlich ist, da sie sich bei Abwesenheit von Weibchen mit Männchen der eigenen Art verpaaren – nicht aber mit Weibchen anderer Arten.
Die Kritiker der Prägungstheorie weisen darauf hin, dass ein direkter Vergleich zwischen Menschen und Tieren (in diesem Fall Vögel) nicht möglich sei. Experimente beim Menschen sind begreiflicherweise nicht durchführbar.
2.1.3.        Hormone
Eine hormonelle Theorie liefern Money et al. (1984) sowie Dörner et al. (1983). Föten, die genotypisch weiblich sind, erlauben prinzipiell drei bereits bekannte Ontogenesen: ist der Fötus androgenresistent, entwickelt er sich gemäß der primären Geschlechtsausstattung phänotypisch zu einem Mädchen. Es hat zwar nur kleine Brüste und bleibt unfruchtbar, entfaltet sich aber soziosexuell völlig normal zu einer heterosexuellen Frau mit durchschnittlicher sexueller Aktivität. Bei partieller Adrogenreistenz ist das Baby bei der Geburt ein (unechter) Zwitter. Es entwickelt sich soziosexuell entsprechend der anerzogenen Geschlechtsrolle, je nachdem, wie das Geschlecht des Baby gedeutet wurde. Später werden oft chirurgische Korrekturen vorgenommen.  Wird der Fötus stark androgenisiert, wird aus ihm ein heterosexueller Junge. Interessant sind die Fälle jener Föten, die zwar normal androgenisiert wurden, zusätzlich aber auch noch stark Östrogenen ausgesetzt waren. Hier dürfte laut Money die Disposition zu Homosexualität begründet liegen.
Gleiches gilt für genotypisch weibliche Föten, die sich unter Androgeneinfluss befinden. Im Extremfall entwickeln solche Kinder einen Penis. Zumindest ist das soziale Verhalten deutlich maskulinisiert und die sexuelle Orientierung nicht selten lesbisch (17% homosexuell, 48% bisexuell).
John Money betont allerdings, dass dies nur eine Disposition ausdrückt; er sieht vielmehr in soziokulturellen Einflüssen die Hauptursache für die spätere Ausformung der Sexualität. Hingegen meint Gunter Dörner, die sexuelle Identität sei primär physiologisch bedingt. Er experimentierte mit Ratten, wo es ihm gelang, mit entsprechender Hormonmanipulation das Sexualverhalten völlig umzupolen. Seine Theorie  besagt, dass die Ausdifferenzierung des Hypothalamus von der hormonellen Umgebung des Embryos bestimmt wird. Entwickelt sich der Hypothalamus unter Androgeneinfluss, so wird der Probant später meist männliches Sexualverhalten an den Tag legen. Wird der Hypothalamus hingegen östrogenisiert, ist das spätere Sexualempfinden weiblich. Ein östrogenisierter Hypothalamus reagiert gewöhnlich auf spätere Östrogengaben mit der Produktion von luteinisierendem Hormon (LH). Ein androgenisierter Hypothalamus zeigt späterhin überhaupt keine Reaktion darauf. Tatsächlich konnte Dörner zeigen – von einer unabhängigen amerikanischen Studie bestätigt – dass sowohl männliche homosexuelle Ratten wie auch ebensolche Menschen auf die Injektion von Östrogen mit einer LH-Ausschüttung reagieren. Als Ursache für das Zustandekommen dieses Syndroms gibt Dörner Stress währen der Schwangerschaft an, da hier der gewöhnliche Hormonhaushalt der Mutter aus dem Ruder läuft.
2.1.4.        Anatomie
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Forschungen des Biologen LeVay (1991). Er behauptet, das biologische Substrat der Homosexualität gefunden zu haben. Er stellte fest, dass männliches Sexualverhalten mit einem großen interstitiellen Kern im Hypothalamus einhergeht. Mir sind keine Vergleichstudien bekannt, und daher kann ich auch nicht beurteilen, wie gut abgesichert seine Ergebnisse sind, aber sofern der Zusammenhang stimmt, ist es durchaus auch möglich, dass das soziosexuelle Verhalten und die Größe des Nukleus unabhängige Folgen einer gemeinsamen Ursache sind.
2.2. Ultimate Theorien
Ultimate Theorien fragen nicht nur nach den Ursachen einer Erscheinung, sondern auch nach deren (systemischer) Funktion. Sie sind insofern von vornherein etwas kritisch zu betrachten, da in ihnen nicht selten ein bisschen Teleologie mitschwingt. Der Ansatz ist mehr oder weniger holistisch.
2.2.1.        Fortpflanzungsregulativ
Altbekannt ist die Theorie, dass Homosexualität als Regulativ bei Überbevölkerung auftrete. Bei Ratten konnte das sogar nachgewiesen werden. Auch der zuvor erwähnte Dörner schlägt in dieselbe Bresche. Sie scheint aber aufgrund des viel zu spät einsetzenden Effekts beim Menschen als unwahrscheinlich. Außerdem scheint Homosexualität den Menschen auch zu begleiten, wenn keine Überbevölkerung vorliegt, wie man zum Beispiel aus der Geschichte weiß.
2.2.2.        Helfer am Nest
Um das relativ konstante Auftreten von Homosexualität evolutionsbiologisch zu erklären, wurde das „Nesthelfer“-Syndrom als theoretischer Ansatz herangezogen. Verzicht auf direkte eigene Nachkommen, um die Aufzucht junger Blutsverwandter zu unterstützen, ist bei verschiedensten Spezies bekannt, z.B. bei Bienen, Blaubuschhähern, Krallenaffen, Zwergmungos oder Nacktmullen. Unter den Helfern bei Mungos kommt es tatsächlich auch zu homosexuellen Kopulationen. Der selektive Vorteil liegt hier darin, dass Kopien des eigenen Erbgutes nicht nur durch die eigenen Kinder weitergegeben werden, sondern  indirekt auch über Blutsverwandte: maximal 50% über Geschwister, 25% über Neffen und Nichten und 12,5% über Cousinen. Wenn die Nutznießer altruistischen Verhaltens nahe Verwandte sind, steigt wahrscheinlich sogar indirekt der eigene Fortpflanzungserfolg. Auf alle Fälle erhöht sich so die „Gesamtfitness“ der Familie (Wilson 1975).
Wie es jedoch zu solchen „Helfern am Nest“ kommen soll, ist nicht einwandfrei geklärt. Das genetische Modell funktioniert analog der Vererbung der Sichelzellenanämie. Ein anderes Modell nimmt die (bewusste der unbewusste) Einflussnahme der Eltern auf die Entwicklung der Kinder an. Für Elter lohnt es sich, nach diesem Modell, Helfer am Nest heranzuziehen, ob durch psychische Beeinflussung oder pränatale Prägung, wenn der Fortpflanzungserfolg an unteilbare Ressourcen geknüpft ist. Nicht nur in der abendländischen Sozial- und Kulturgeschichte kennt man Syndrome, in denen Erb- und Thronfolgen, Zölibat, Kinderlosigkeit und Familiensolidarität miteinander verwoben sind.
Obwohl denkmöglich, hat diese Verknüpfung von Homosexualität, Verwandtenunterstützung und elterlicher Manipulation meiner Meinung nach einen weitgehend spekulativen Charakter.
3.       Theologie
3.1. Das Alte Testament
Die Stellungnahmen des Alten Testaments zum Thema Homosexualität sind eindeutig. Die diesbezüglichen Verbote befinden sich im 3. Mose 18/22 sowie im 3. Mose 20/13. Sie fordern die Todesstrafe. Allgemein bekannt ist vor allem die Stelle im 1. Mose 19/1-28, die Geschichte von Sodom und Gomorra. Jüngst pflegt die Stelle als Bruch des Gastrechts interpretiert zu werden; aber diese Deutung ist äußerst unplausibel, da die Vernichtung der Städte längst beschlossen war, schon bevor sich der Vorfall mit den Boten Gottes ereignete. Die Szene soll nur noch einmal post hoc Gottes Zorn rechtfertigen.
HuK-Christen[*]  möchten gern im 2. Samuel 1/26 eine alttestamentarliche Gutheißung der homosexuellen Liebe sehen, und es ist auch wahrscheinlich so, dass im Alten Bund sublime, platonische Liebe unter Männern sicher nicht untersagt gewesen ist. Aber mehr lässt sich aus dieser Stelle beim besten Willen nicht herauslesen.
3.2. Das Neue Testament
Weniger Klarheit besitzt das Neue Testament. Liest man die betreffenden Stellen (Römerbrief 1/20-31, 1. Korinther 6/9-11, 1. Thimotheus 1/8-11, Judas 5-8) unvoreingenommen, so scheinen sie eher Warnungen an die Gemeindemitglieder zu sein und nicht als Verbote,  die weltlich geahndet werden müssen. Würde man aufgrund des Verses in Römer 1/32 die Todesstrafe fordern, so müsste sie analog auch bei Geiz und Unvernunft angewendet werden. Außerdem ist die Übersetzung nicht immer korrekt. Im griechischen Originaltext steht im 1. Korinter 6/9: …ούτε μαλακοί ούτε αρσενοκοίται. Das würde in modernem Deutsch etwa so klingen: weder Weicheier noch Stricher.
Die HuK sieht gern im Vers Markus 10/21 Hinweise auf homosexuelle Tendenzen bei Jesus, doch das ist sehr wahrscheinlich eine Überinterpretation, die dem Wunschdenken erwächst.
Ich will hier aber keine Bibelexegese betreiben, zumal sie auch nicht mein Fach ist. Ich möchte nur festhalten, dass das Neue Testament zwar Homosexualität als Unsitte anprangert, wobei sich die Stellen in den Apostelbriefen nicht direkt auf Jesus zurückführen lassen, es fordert aber keinerlei Sanktionen gegenüber Homosexuellen.
3.3. Die katholische Kirche
In den Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 72 (1986) heißt es auf der Seite 4: „Die spezifische Neigung der homosexuellen Person ist zwar sicher nicht sündhaft, begründet aber eine mehr oder weniger starke Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grund muss die Neigung selbst als objektiv ungeordnet betrachtet werden.“ Andererseits heißt es darin auch (Seite 12): „…dass jede Person dieselbe fundamentale Identität zukommt: nämlich Geschöpf zu sein und durch die Gnade Kind Gottes, Erbe des ewigen Lebens.“ Ist somit nicht auch der homosexuelle Mensch ein Geschöpf Gottes und daher von ihm angenommen?
Jüngst hat sich Papst Franziskus (2013) zum Thema geäußert – allerdings eher im Sinne einer diplomatischen Enthaltung. Die Kirche soll sich mit Fragen zur Abtreibung, zur homosexuellen Ehe und zur Verhütung einfach nicht befassen. Die Haltung der Kirche dazu sei ohnehin bekannt. „Homosexuelle Akte“ sind für ihn aber nach wie vor verurteilungswürdig.[†]
3.4. Die evangelische Kirche
Im Vorwort des Arbeitspapieres der rheinischen Landessynode 1992 zur „Homosexuellen Liebe“ heißt es auf der Seite 5 und 6: „Auch wenn die humanwissenschaftlichen Ergebnisse des Theologischen Ausschusses von manchen Synoden für nicht gesichert und seine biblische Auslegung für nicht nachvollziehbar gehalten werden, so ist sich doch die gesamte Synode darin einig, dass eine moralische Verurteilung von homosexuell lebenden und liebenden Menschen dem Geiste des Evangeliums nicht entspricht und seelsorglich nicht weiterführt. Darum sollen die strittigen Fragen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg bedacht und entschieden werden.“ Offenbar hat sich hier bereits eine humanistische Haltung durchsetzen können.
Zum Abschluss diese Kapitels möchte ich noch ein Zitat aus dem Matthäusevangelium bringen (Matthäus 7/1): „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“ Selbst wenn die Homosexualität vor Gott eine Sünde ist, so steht es den gläubigen Christen dennoch nicht zu, darüber zu urteilen (Vergleiche dazu auch: Johannes 8/15; Römer 2/1, 1. Korinther 4/5).
3.5. Der Islam
Im Qur’an wird Homosexualität an keiner Stelle erwähnt, daher gibt es von daher auch keine Hinweise in Bezug darauf, wie Homosexualität im Islam zu bewerten ist. Allerdings gibt es Hadithe, die sich mit dem Phänomen befassen. Hadithe sind überlieferte Aussagen des Propheten, die zwar keine Offenbarungen darstellen, aber dennoch bei sittlich-rechtlichen Fragen herangezogen werden, sofern diese nicht durch den Qur’an abgedeckt sind. Folgender Hadith befasst sich explizit mit diesem Thema (nach Sahih Al-Buhari 1991): „Wenn jemand ein homosexuelles Verhältnis zu einem Jungen hat, darf er die Mutter dieses Jungen auf keinen Fall heiraten.“
Dieser Hadith zeigt, dass homosexuelles Verhalten ursprünglich im Islam nicht sanktioniert wurde. Ganz im Gegenteil, es kommen dieselben Inzestverbote zur Anwendung, die auch für heterosexuelle Kontakte gelten. Die rezente Ablehnung und Verfolgung von Homosexuellen, die völlig unhistorisch ist (man lese nur die Gedichte von Hafis), wurde von den europäischen Kolonialisten importiert. Leider haben viele Völker diese europäische Homophobie, die vermutlich germanischen Ursprungs war und sich in der Neuzeit im Zuge des Naturrechts  in  Europa allgemein durchsetzte, unhinterfragt übernommen und weitertradiert, während sie hier in Europa bereits wieder überwunden wurde.
4.       Schlussbetrachtungen
4.1. Argumentationsanalysen
Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen können prinzipiell nur zu zwei Urteilen führen: Entweder ist Homosexualität als natürlich zu betrachten – oder als unnatürlich. Jede dieser beiden kontradiktorischen Behauptungen muss klarerweise durch Fakten belegt werden. Rezente Studien geben eindeutig der ersten Aussage Evidenz, vor allem, da Urteile über die Naturgemäßheit eines Ereignisses oder Phänomens nur daran gemessen werden können, ob etwas in natura vorkommt oder nicht. Somit ist Homosexualität natürlich natürlich!
Aber bleiben wir noch ein bisschen theoretisch: Falls die Frage nach der Natürlichkeit von Homosexualität empirisch nicht entscheidbar wäre, ergeben sich vier klassische Argumentationsmuster pro und kontra Homosexualität.
4.1.1.        Das Argument „contra naturam“
Wenn Homosexualität im Tierreich nicht vorkommt, ist sie moralisch abzulehnen.
Bereits im Römerbrief begegnet uns dieses Argument. Es wurde sogar noch 1974 von einem Biologen vertreten (Hunt 1974). Zwar kann der Vordersatz als widerlegt betrachtet werden, dennoch wäre das Argument gültig, falls der Nachsatz stimmen sollte, da die Wahrheit einer Subjunktion immer nur von der Wahrheit des Nachsatzes abhängt.
4.1.2.        Das Argument „ultra naturam“
Dieses Argument sagt: Gerade weil Homosexualität im Tierreich nicht auftritt, sei sie besonders hoch zu bewerten. So schreibt der Autor Pseudo-Lucian im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (zitiert nach Sommer 1990): „Löwen kennen solche Liebe nicht, da sie nichts über Schönheit wissen, die aus Freundschaft erwächst.“
Auch hier gilt, dass zwar das Vorderglied falsch ist, die Subjunktion aber dennoch wahr sein kann (siehe 4.1.1.).
4.1.3.        Das Argument „natura animalis“
Gerade weil Homosexualität als tierisch gilt, ist sei unter Menschen abzulehnen.
Dieses frühchristliche Argument findet sich zum Beispiel in der Epistel des Barnabas (eine Apokryphe). Hier stimmt zwar das Antezedens, deshalb muss aber nicht notwendigerweise die ganze Subjunktion stimmen (siehe 4.1.1.).
4.1.4.        Das Argument „sit quid est“
Dieses – auf den ersten Blick einleuchtendste – Argument leitet aus der Natürlichkeit des Phänomens seine moralische Rechtfertigung ab: Weil Homosexualität im Tierreich vorkommt, ist sie moralisch unbedenklich.
Aber hier liegt ein typischer Fall eines naturalistischen Fehlschlusses vor, den David Hume erstmals entlarvte. Auch Katastrophen und tödliche Krankheiten wären demnach gut zu heißen. Formal ist das Argument wieder nur gültig, wenn man den Nachsatz als wahr akzeptiert (siehe 4.1.1.).
5.       Schlussfolgerung
Die Konklusion aus der Betrachtung der Argumente kann also nur lauten, dass uns die Natur prinzipiell keinen Hinweis darauf geben kann, wie etwas zu bewerten ist. Die Wahrheit der Argumente hängt in allen Fällen ausschließlich davon ab, ob man den Nachsatz für wahr oder falsch hält. Ist Homosexualität gut, so stimmen beide Argumente, die dafür sprechen. Ist sie schlecht, stimmen die beiden anderen Argumente. Das hilft uns also nicht weiter.
Im Grunde handelt es sich stets um eine ungültige Verknüpfung von normativen Urteilen mit Existenzaussagen. Es ist also in jedem Fall von einem naturalistischen Fehlschluss auszugehen. Die Natur selbst kann niemals die Grundlage einer Ethik sein: „No Ought from an Is!“
6.       Stellungnahme
Die ganze Abhandlung war bisher eher abstrakt gehalten. Doch nun will ich meine persönliche Stellungnahme dazu abgeben. Vorausschicken möchte ich jedoch, dass die menschliche Homosexualität nicht nur ein Verhalten darstellt, sondern auch Ausdruck eines psychischen Affektes ist, nämlich der Liebe!
Da uns die Natur keine Argumentationshilfen liefert, will ich utilitaristisch an die Sache herangehen. Ich stelle daher die Frage: Wem nutzt oder schadet homosexuelles Handeln?
Meine persönliche Antwort lautet: Sie schadet niemandem, nutzt aber dem physischen und psychischen Wohlbefinden der Betroffenen, daher ist sie nicht als verwerflich einzustufen.
Der Angelpunkt einer Ethik kann immer nur der oder die Nächste sein: beeinträchtigt ihn oder sie eine Handlung oder aber nicht. Nach diesem Prinzip ist alles erlaubt, sofern es keinen negativen Einfluss auf andere hat. Das wäre die strikte Formulierung. Inwieweit die Forderung in jedem Fall so strikt sein kann, ist zu diskutieren.
Zum Thema Homosexualität und Kirche meine ich, dass beide Standpunkte unvereinbar sind. Wenn Homosexuelle Christen sein wollen, müssen sie praktisch auf homosexuelle Betätigung verzichten. Eine unmenschliche Forderung.
Ist den Homosexuellen aber die Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen – die sich immer auch körperlich ausdrückt – wichtiger, dann können sie eben keine Christen sein. Dennoch ist festzuhalten, dass der Glaube (auch nach der Bibel) eine freie Entscheidung darstellt, weshalb die Kirche oder die Christen nicht das Recht haben, ihre Maßstäbe Nichtchristen aufzudrängen.
7.       Literatur
Al-Buhari, Sahih: Nachrichten von den Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Übersetzt und Herausgegeben von Dieter Ferchl. 336. Reclam, Ditzingen 1991.
Augustinus: De vera religione. Buch 1, Kapitel 11. In: Walter Rüegg (Hg): Augustinus. Theologische Frühschriften. Artemis, Zürich 1962.
Bleinbteu-Ehrenberg, Gisela (1978): Homosexualität. Die Geschichte eines Vorurteils. Fischer,  Frankfurt 1978.
Dörner, Gunter; Schenk, B.; Schmiedel, B. & Ahrens, L. (1983): Stressful events in prenatal life of bi- and homosexual men. Experimental and Clinical Endocrinology 81 (1), 83-87. Endocrine Society, Washington 1983  (zitiert nach Sommer 1990a).
Evangelische Kirche im Rheinland (1992): Homosexuelle Liebe. Arbeitspapier für rheinische Gemeinden und Kirchenkreise. Landeskirchenamt, Düsseldorf 1992.
Henning, Max  & Schimmel, A. (1960): Der Koran. Reclam, Ditzingen 1960.
Hunt, Morton (1974): Sexual Behaviour in the 1970s. Playboy Press, Chicago 1948 (zitiert nach Sommer 1990).
Kinsey, Alfred C.; Pomeroy, W.B. & Martin, C.E. (1948): Sexual Behavior in the Human Male. W.B.Saunders, Philadelphia 1948 (zitiert nach Sommer 1990a).
Kinsey, Alfred C.; Pomeroy, W.B.; Martin, C.E. & Gebhard, P.H. (1949): Concepts of normality and abnormality in sexual behavior. In: P.H. Hoch & J. Zubin (Hg.): Psychosexual Development in Health and Disease. 11-32. Grune & Stratton, New York 1949 (zitiert nach Sommer 1990a).
Kinsey, Alfred C.; Pomeroy, W.B.; Martin, C.E. & Gebhard, P.H. (1953): Sexual Behavior in the Human Female. W.B.Saunders, Philadelphia 1953 (zitiert nach Sommer 1990a).
LeVay, Simon (1991): A Difference in Hypothalamic Structure Between Heterosexual and Homosexual Men. Science, Vol. 253, 1034-1037. AAAS, Washington 1991.
Money, John; Schwarz, M. & Lewis, V.G. (1984): Adult erotosexual status and fetal hormonal masculinization and demasculinization. Psychoneuroendocrinology 9, 405-414. ISPNE, Berlin 1984 (zitiert nach Sommer 1990a).
Prostmeier, Ferdinand (1999): Der Barnabasbrief. Reihe: Kommentar zu den Apostolischen Vätern (KAV, Bd. 8). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999.
Schutz, Friedrich (1971): Prägung des Sexualverhaltens von Enten und Gänsen durch Sozialeindrücke während der Jugendphase. Journal of Neuro-Visceral Relations. Suppl. X, 339-357. Springer, Cham 1971.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1986): Schreiben der Kongregation für Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen. Verlautbarung des Apostolischen Stuhles, Bonn 1986.
Sommer, Volker (1990a): Wieder die Natur? Homosexualität und Evolution. C.H.Beck, München 1990.
Sommer, Volker (1990b): Das Tabu. Homosexualität im Tierreich. Nature 10, 54-58. NPG, München 1990.
Wilson, Edward o. (1075): Sociobiology: The New Synthesis. Harvard University Press, Cambridge Massachusetts 1975 (zitiert nach Sommer 1990a).




[*] Homosexualität und Kirche (Verein) – in Österreich HuG (Homosexualität und Glaube).
[†] Die Zeit (online-Ausgabe der Verlagsgruppe) vom 29. Juli 2013 („Papst warnt vor Diskriminierung Homosexueller“) und vom 19. September 2013 („Papst will weniger über Homosexualität reden“).

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Sunday, October 26, 2014

Goethe und die Naturwissenschaften  
Interview für eine Fachbereichsarbeit vom 26. Oktober 2014 in Kärnten.
1)      Wieso ist Goethe bekannter für seine Literatur als für seine Naturwissenschaft?
Ich bin kein Goethe-Experte und auch kein Germanist, aber ich denke, es hat – neben seiner herausragenden literarischen Begabung – vor allem damit zu tun, dass Goethe sich mit seiner Farblehre zu sehr in Opposition zu Newton (und auch zu Kant) gestellt hat. Damit geriet seine Farblehre in Misskredit, obwohl sie die subtraktive Farbmischung, also das physikalische Verhalten von Pigmentfarben, grundsätzlich richtig beschreibt, auch wenn seine darüber gelegte Theorie der Farben falsch ist. Goethe selbst hielt sie für die allein richtige und lehnte folgerichtig Newtons Farblehre kategorisch ab. Newtons Farbtheorie befasste sich aber mit dem Verhalten von Lichtfarben, also mit der additiven Farbmischung. Im Grunde waren beide Beschreibungen richtig, nur auf verschiedenen physikalischen Ebenen.  Der scheinbare Widerspruch war nur eine Sache der unterschiedlichen Domänen, und kein sich ausschließender. Nichtsdestotrotz erlangte Newtons Physik den Siegeszug und verdrängte in der Folge auch Goethes Leistungen auf dem Gebiet der Farbtheorie.
2)      Was war Goethes wichtigstes Anliegen in der Naturwissenschaft?
Goethe ging es einerseits um ein ganzheitliches Verständnis der Natur (das klingt fast zeitgemäß), andererseits störte ihn die Trennung von Subjekt und Objekt. Für Goethe zeigen uns die Sinne die Welt so, wie sie ist und nicht als Trugbild (Erscheinung).  Damit geht er in Opposition zu Kants Kritik, die das Subjekt vom Objekt  trennt und daher das „Ding an sich“ als unerkennbar betrachtet.
Beseelt war Goethe sicher von einem evolutionären Gedanken, auch wenn es noch keine ausformulierte Theorie dazu gab. Seine Entdeckung des „Os intermaxillare“ sowie seine ständige Suche nach der Urpflanze legen das Nahe. Und mit seiner Ansicht, dass alles an der Pflanze ursprünglich Blatt gewesen sei, trifft er den Nagel – zumindest für die Gefäßpflanzen – ziemlich auf den Kopf. Seine morphologischen Studien dazu sind beeindruckend. Der Begriff „Morphologie“ wurde ja von Goethe 1796 erstmals geprägt.
Das scheinbare Fehlen des „Os intermaxillare“ (des Zwischenkieferknochens, heute „Os incisivum“) galt bis dahin als theologischer Beweis für die Sonderstellung des Menschen in der Natur. Alle anderen Säugetiere hatten diesen anatomischen Bestandteil des Schädelskelettes, nur beim Menschen schien er nicht vorhanden zu sein. Goethe wies in anatomischen Studien an frühen Totgeburten nach, dass auch der Mensch diesen Knochen besitzt, er aber später so mit dem Oberkieferknochen verwächst, dass er im adulten Stadium nicht mehr als eigene Struktur erkennbar ist. Damit stimmte nun auch der Mensch anatomisch in allen Details mit den anderen Säugetieren überein.
Wie nun unschwer zu erkennen ist, ging Goethe – zumindest in seinen jungen Jahren – mit ziemlicher Sicherheit nicht von einer Schöpfung aus. Für ihn war die Welt auf natürliche Weise zu erklären. Die Natur selbst war seine Mutter aller Dinge und bringt diese aus sich selbst hervor. Er steht somit in der Tradition von Spinozas Pantheismus: deus sive natura. Er drückte seine naturalistische Haltung eher vorsichtig so aus: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion (Zahme Xenien IX).
3)      Was waren die Gründe für Goethes Italienreise?
Das weiß ich natürlich nicht wirklich, aber Italien galt in der Aufklärung als Wiege der Renaissance, sodass viele Intellektuelle in das Land strebten, wo die Zitronen blühen, um sich zu bilden. Es handelte sich also jedenfalls um eine Studienreise. Außerdem wollte er auch die Urpflanze finden. Das könnte ebenfalls ein Motiv für seine Reise gewesen sein. Er glaubte sie später im Brutblatt (Bryophyllum) gefunden zu haben, weil da aus den Blatträndern immer wieder neue Pflanzen herauswachsen.
4)      Goethes Mittel der Forschung war die Beobachtung. Wieso stand er Mikroskopen und anderen Hilfsmitteln kritisch gegenüber?
Goethe suchte die Unmittelbarkeit in der Beobachtung, er verachtete die Trennung von Subjekt und Objekt.  Jedes Gerät oder Medium stellt sich da dazwischen, bildet also ein Trennlinie oder ein Hindernis zwischen dem Beobachteten und dem Beobachter, für Goethe ein Gräuel.  Das hat mit seiner bereits zuvor erwähnten Kritik an Kants unerkennbaren „Ding an sich“ zu tun. Auch seine Ablehnung von Newtons Farbenlehre hat wahrscheinlich unter anderem auch damit zu tun, da Newton dafür ein Prisma in einer „camera obskura“ (Dunkelkammer) verwendet hatte. Für Goethe wurde so mutwillig das reine Weiß des Lichtes zerstört!
Auch Goethe machte Experimente mit Prismen, beachtete dabei aber vor allem die Beugungsspektren an den Rändern, und zog daraus dann die falschen Schlüsse. Für ihn war die Grundfarbe das reine Weiß – die anderen Tönungen ergaben sich nach Goethe durch die Beimischung von Schatten oder Dunkelheit.
5)      Goethe hielt seine Farbenlehre für sein naturwissenschaftliches Hauptwerk und verteidigte seine Thesen hartnäckig. Wieso tat er dies?
Eigentlich habe ich diese Frage zuvor schon fast beantwortet:  Goethe ging es um die Unmittelbarkeit der Erfahrung. Für ihn war die Subjektivität nicht von der Objektivität zu trennen. Sein Zugang zur Natur war also holistisch, um ein Modewort zu gebrauchen.  Daher lehnte er auch Newtons Methode ab und sah sie als fehlgeleitet. Weißes Licht war für Goethe weißes Licht und nicht aus dunkleren Farben zusammengesetzt. Newton hatte seiner Meinung nach die Natur des Lichtes mit seinen Experimenten vergewaltigt. Wenn Goethe alle seine Farben mischte – er hatte ja auch eine künstlerische Ausbildung – so ergab sich Schwarz und nicht Weiß. Das war für Ihn Grund genug, Newtons Theorie als falsch zu betrachten.  Dass beide auf einem ganz anderen Feld forschten, erkannte er und auch die anderen damals nicht. Lichtfarben verhalten sich anders als Pigmentfarben. Bei Licht ergibt die Mischung aus rotem und grünem Licht Gelb, bei Pigmenten ergibt die gleiche Mischung Dunkelgrau oder Schwarz. Das ist eben der Unterschied von additiver und subtraktiver Farbmischung und hängt auch von unseren Farbrezeptoren ab (für das menschliche Auge ist die Mischung aus rotem und grünem Licht von einem reinen gelbwelligen Licht nicht unterscheidbar – daher kann uns der Farbfernseher mit nur drei Grundfarben alle Farbeindrücke vorgaukeln). Farbfernseher funktionieren additiv (Grundfarben: Rot, Grün und Blau) und Druckfarben funktionieren subtraktiv (Grundfarben: Magenta, Gelb und Cyan). Die eine basiert auf Lichtzugabe, die andere auf Lichtlöschung. Heute ist das kein Geheimnis mehr, aber damals war man sich dieses unterschiedlichen Verhaltens in den beiden Farbdomänen nicht bewusst. Insofern ist Goethes Verhalten fast entschuldbar, obwohl er sich der Newtonschen Evidenz verweigerte. Aber er hatte ein starkes Grund: Auch seine Farbmischungen funktionierten, wenn auch nur mit Pigmentfarben.
Goethes Farbkreis, der übrigens in den Grundzügen dem Farbkreis von Johannes Itten gleicht, wenn man ihn auf die Grund- und primären Mischfarben reduziert, verwendet die Farben Purpur (d.i. Rot), Gelbrot (d.i. Orange), Gelb, Grün, Blau und Blaurot (d.i. Violett). Jeder Farbe ordnete er weitere Eigenschaften wie „schön, edel, gut, nützlich, gemein und unnötig“ zu. Auch andere Bezüge stellte er her: In seiner gesamtheitlichen Schau machte er auch ästhetische und sinnesphysiologische Überlegungen zu den Farben. Für ihn war Weiß die Grundfarbe, aus der durch Beimischung von Dunkelheit oder Schatten die Farben entstehen. Dass das Weiß nach Newton als Summe von den dunkleren Farben zu verstehen ist, widersprach daher seinem Farbverständnis.

Man kann abschließend nur sagen: Große Geister, große Fehler!

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Monday, March 24, 2014

ECCE TERRA

Die englische Gartenkunst ist das Generalthema, das Gerhard Streminger in seinem Buch „ECCE TERRA“ aus historischer, philosophischer und ästhetischer Sicht behandelt. Das Buch selbst gliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten Teil wird eine abenteuerliche Ballonfahrt geschildert, wobei im Überflug Landschaft und Wetter von England beschrieben werden. Der zweite und umfassendste Teil befasst sich mit der Geschichte der englischen Gartenkunst, wobei philosophische und ästhetische Aspekte nicht ausgespart bleiben. Im letzten Kapitel wird als Quintessenz der historischen Entwicklung, die sich bewusst vom absolutistischen Barockgarten abheben wollte, Abschied vom Theozentrismus genommen, um beim naturnahen Landschaftspark anzukommen.
Nachdem im Eingangskapitel das England der Parklandschaften aus der Vogelperspektive betrachtet und beschrieben wurde, geht es zu den Ursprüngen der englischen Gartenkunst zurück, die sich einerseits als Opposition zum französischen Barockgarten verstand, und andererseits Anleihen bei antiken und italienischen Vorbildern nahm. Es ging nun nicht mehr um Symmetrie und einem absoluten Herrschaftsanspruch, sondern immer mehr um die Bedürfnisse der Pflanzen und der Natur selbst, sowie des Menschen, der sich darin bewegt. Denn die Aufgabe eines solchen Naturparks ist es auch, zur Kultivierung der menschlichen Natur beizutragen.  Der englische Landschaftsgarten verfolgt daher nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen ethischen Anspruch.
Die Idee des Gartens als ideale Welt spiegelt sich ja bereits in den alten Mythen vom verlorenen Paradies wider. In der englischen Gartenarchitektur geht es auch darum, diesen Verlust zumindest in Ansätzen wieder auszugleichen. Dabei dient die Natur selbst als Vorbild. Man will sie verbessern, ohne ihr Zwang anzutun. Licht und Schatten sind die wesentlichen Gestaltungselemente.
Mit der Abwendung vom Theismus in der englischen Aufklärung schwindet auch die Verachtung der Natur, sie tritt nun in ihrer vielschichtigen Beziehung zum Menschen in den Vordergrund. Die Welt ist nicht mehr das, was uns von Gott trennt, sondern man kann nun Gott in der Natur finden. Damit erhält die lebendige Landschaft, in der sich der Mensch bewegt, eine positive Bedeutung, auch für uns Menschen. Letztendlich gipfelt diese Entwicklung in der Theozideefrage, die Streminger im letzten Kapitel kurz behandelt: Liest man im Buch der Natur, lässt sich darin nichts Übernatürliches finden. Ganz im Gegenteil: die Natur ruht in sich selbst und bedarf somit keines Schöpfers; eventuell aber eines Gestalters...
Gerhard Streminger hat Philosophie und Mathematik in Graz, Göttingen, Edinburgh und Oxford studiert. 1978 promovierte er in Graz zum Doktor der Philosophie sub auspiciis Praesidentis. Nach seiner Lehrtätigkeit an der University of Minnesota in Minneapolis habilitierte er sich 1984 in Graz für das Fach Philosophie. Seit 1995 ist er außerordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Graz. Streminger ist als engagierter Naturalist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Giordano Bruno Stiftung. Mit seinem kleinen Beitrag zur Geistesgeschichte der englischen Gartenkunst versteht es Streminger, den Menschen wieder ins Zentrum des natürlichen Geschehens zu stellen. Der englische Landschaftsgarten ist Ausdruck dieser Kehrtwendung  hin zum Natürlichen und somit auch zum Menschen. Die Natur wird dabei inszeniert, aber nicht vergewaltigt.

Gerhard Streminger
ECCE TERRA
Zur englischen Gartenkunst
Bibliothek der Provinz, Weitra 2013

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Wednesday, January 01, 2014

Weltenlos? Kritik an einer Weltleugnung.


Mit dem 23. Juni 2011 soll ein neues Zeitalter eingeläutet worden sein, der so genannte „Neue Realismus“, der die Postmoderne ablösen will. Mit seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ versucht Markus Gabriel diesen „neuen“ („alten“) Weltzugang zu erläutern. Er konstatiert: „Der Konstruktivismus ist absurd, er wird meist aber nicht durchschaut.“

Während der Postmodernismus die Welt als Konstrukt der menschlichen Sinne und Interessen sieht, und sich über eine vermeintlich dahinterliegende Wirklichkeit enthält (Epoché) oder sie gar leugnet, erklärt der Neue Realismus hingegen alles für wirklich: die Welt, wie wir sie sehen, und die Welt, wie sie ist. Alles ist wirklich, alles existiert: „Wie meine linke Hand mir erscheint, ist genauso real wie meine linke Hand selbst.“ Es gibt somit viele Welten oder „Sinnfelder“ (so nennt Gabriel Sinnzusammenhänge), aber eben nicht die eine, alles umfassende Welt.

Interessant an Gabriels Ansatz ist, dass er versucht, eine Brücke zwischen subjektiver Weltsicht und objektiver Wirklichkeit zu schlagen. Für ihn ist beides wirklich und daher vorhanden, wenn auch in anderen „Sinnfeldern“. Somit vervielfachen sich seine realen Objekte ins Unermessliche. Darum gibt es auch nichts, das alles enthalten kann. Jeder Gedanke über die Welt ist wieder nur ein Objekt in der Welt. Hier argumentiert er in gewisser Weise analog zu Russels Typentheorie (es gibt keine Menge, die alle Mengen und zugleich auch sich selbst enthält). Dennoch macht er Aussagen über die Welt, indem er einerseits Martin Heidegger zitiert („Die Welt ist der Bereich aller Bereiche.“) und sie andererseits negiert: die Welt als Gesamtheit gibt es eben nicht gibt. Offenbar will er damit ausdrücken, dass der Bereich aller Bereiche überabzählbar unendlich und daher nicht umfassend darstellbar ist. Einen solchen Supergegenstand, der wirklich alles umfasst, kann es darum nicht geben: „Der Ausdruck »alles« bezieht sich auf nichts Bestimmtes.“ Dennoch plädiert er für eine „formale Weltunterstellung“, um Kohärenz herstellen zu können.

Die Leugnung der Welt ist eine Sache; zu sagen, dass man über sie nicht sinnvoll sprechen kann, eine andere.  Erinnert sei hier an das Bonmot von Ludwig Wittgenstein: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Vielleich sollte man sich auch seinen folgenden Ausspruch vergegenwärtigen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“

Nach eigenem Ermessen kommt Gabriel ohne jede Metaphysik aus, die er in der Reflexion über das Weltganze verortet. Allerdings betreibt er Ontologie, eine klassisches Terrain der Metaphysik, nicht aber für Gabriel. Ohne Ontologie kommt er nicht aus, denn er muss die Dinge und Tatsachen, die die Welt ausmachen, Sinnfeldern zuordnen. Alles Seiende existiert ja nur in einem bestimmten Sinnfeld: „Der Gedanke an Schnee und Schnee gehören schlicht  zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen an.“

Zugleich versucht er mithilfe einer ontologischen Reduktion nachzuweisen, dass gewisse Diskurse inhaltsleer (ergo „Geschwätz“) sind. Er nennt das „Irrtumstheorie“. Allerdings räumt er ein, dass auch das Geschwätz Teil der Wirklichkeit ist und somit existiert, wenn eben auch nur als Geschwätz: „Falsche Gedanken existieren, aber die Gegenstände, von denen sie handeln, kommen nicht in dem Feld vor, in dem falsche Gedanken sie verorten.“

Um seinen ontologischen Pluralismus zu verteidigen, wendet Gabriel sich gegen die formale Logik, derzufolge Existenz offenbar immer auch mit Zählbarkeit zu tun hat (zumindest ist die formale Logik dadurch ontologisch neutral, denn der Existenzquantor nimmt keinen Bezug auf irgendwelche Seinsweisen). Für Gabriel sind Sinnfelder mehr als nur formal beschreibbare Mengen. Er greift dabei auf Freges Sinnbegriff zurück und versucht zu zeigen, dass je nach Sinnfeld der nämliche Gegenstand als etwas ganz anderes in Erscheinung treten kann, z.B. als physikalisches Objekt, als Kunstwerk, als Bedrohung, als Wertgegenstand etc.: „Der Sinn ist die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“ Existenzaussagen sind für Gabriel immer nur in Bezug auf ein Sinnfeld berechtigt: „Existenzaussagen, seien sie positiv oder negativ, beziehen sich immer nur auf ein Sinnfeld oder einige Sinnfelder, niemals aber auf alle und am allerwenigsten auf ein allumfassendes Sinnfeld.“

Für Gabriel gibt es unendlich viele Sinnfelder mit unterschiedlichsten Eigenschaften. Die Frage, welche Sinnfelder es konkret gibt und wie sie beschaffe sind, ist seiner Meinung nach aber eine empirische zu beantwortende. Er bezieht hier aber die Geisteswissenschaften mit ein. Jedenfalls ist für ihn die Welt erkennbar, wenn auch von einem menschlichen Standpunkt aus. Für ihn gibt es kein „Ding an sich“, einen unerkennbaren Träger der Eigenschaften, sondern die Eigenschaften selbst sind die Konstituenten der Dinge. Andererseits gibt es auch keinen neutralen Beobachtungsort, da die Erscheinungen immer auch in einem Kontext stehen, in dem der Mensch miteingebunden ist. Meiner Meinung nach ist das Metaphysik.

Letztendlich ist Gabriel ein Platonist, der an real existierenden Universalien festhält (und das angeblich ohne Metaphysik!). Das wird besonders deutlich, wenn er sich gegen den Nominalismus („Namen sind Schall und Rauch“) wendet. Für ihn gibt es vorhandene Strukturen, die wir begrifflich nachzeichnen. Sein Realismus ist die allgemeine Behauptung, dass es universale Strukturen gibt. Seine doppelte These lautet, „dass wir erstens Dinge und Tatsachen an sich erkennen können und dass zweitens Dinge und Tatsachen an sich nicht einem einzigen Gegenstandsbereich angehören.“ Das ist zumindest ein Standpunkt. Ob er hält, ist fraglich. Eigenartig ist nur, dass er sich gegen die Aufklärung wendet, der er explizit vorwirft, die Welt sinnentleert zu haben. Was er dabei übersieht, ist, dass die Aufklärung die Welt zwar in gewissem Sinne entzaubert, aber zugleich den Mensch mit nüchternem Blick wieder ins Zentrum gestellt hat (man denke zum Beispiel an die Menschenrechte: Der Mensch dient nicht einem höheren Wesen, sondern sich und den Mitmenschen; und der Antrieb für diese Entmythifizierung und Zurechtrückung ist der Nominalismus). Namen (als phonetische Gebilde oder Symbole) sind aber unbestreitbar willkürlich, die Proposition dahinter vielleicht nicht (oder zumindest nicht immer). Interessant ist in diesem Zusammenhang sein Kapitel über „Sider-Welten“, indem er versucht zu zeigen, dass konstruierte „Querbegriffe“ unsinnig sind.

Wider seinen Anspruch, gegen die Aufklärung zu sein, greift er aber doch ein altes Sujet der Aufklärung auf, nämlich die Ideologiekritik (auch wenn er sie die Kritik an Weltbildern nennt). Das ist eindeutig eine aufklärerische Tugend.

Befremdet hat mich insbesondere, dass er die Theologie als Wissenschaft verteidigt. Er gesteht zwar ein, dass es kein höchstes Wesen und keinen Schöpfer geben kann (hier argumentiert er analog zu seinem Argument wider die Weltexistenz), dennoch rechtfertigt er die Theologie als sinnstiftendes und tröstendes Unternehmen. Zugleich wirft er dem wissenschaftlichen Weltbild Fetischismus vor, ein Vorwurf, der eher Religionen trifft. Wenn ein wissenschaftliches Weltbild, das sicher nur eines unter vielen sein kann, fetischhaft sein sollte, wäre Wissenschaft starr und unwandelbar. Aber Wissenschaft verändert sich ständig in Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen. Sie ist kein starres Lehrgebäude, wie z.B. die Homöopathie, und schon gar kein Weltbild. Aber zumindest räumt er ein: „Sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Weltbild sind falsch, sofern es sich um Weltbilder handelt.“ Und: „Religion ist das Gegenteil einer Welterklärung.“

Es gäbe sicher noch viel zu diesem Buch (er äußert sich u.a. noch zu Kunst und Kultur) zu sagen, aber ich möchte es hiermit belassen, vor allem, weil ich in diesen Bereichen nicht wirklich firm bin. Ungewöhnlich sind auch seine Bezugnahmen auf Kinofilme und TV-Serien (obwohl ich letztere als TV-Verweigerer nicht kenne und daher seine Anspielungen nicht immer verstehe). Die „Science Busters“  (www.sciencebusters.at) scheinen ihm jedenfalls unbekannt zu sein. Insgesamt überzeugt seine Darstellung nicht, obwohl er viele interessante philosophische Probleme anreißt. Wirklich neu erscheint mir sein Platonismus (der ja schließlich auf Platon alias Aristokles, also ca. 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung, zurückgeht) auch nicht zu sein.

Markus Gabriel:
Warum es die Welt nicht gibt.

Ullstein, Berlin 2013

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Saturday, October 26, 2013

TESTOSTERON MACHT POLITIK

Politische Entscheidungen folgen
oft nicht rationalen Überlegungen.
Gefühle, Begierden und Ängste werden
 in der politischen Analyse
unterschätzt oder völlig ausgeblendet.
Karin Kneissl


„Will man Politik verstehen, muss man die Natur des Menschen begreifen.“ Mit diesem Satz beginnt das neue Buch von Karin Kneissl, ein Versuch, den Zusammenhang von Politik, Geschichte und der  „Conditio humana“  zu ergründen. Es geht ihr dabei weder um populistischen Biologismus noch um plumpen Determinismus, sondern um die Frage, inwiefern die biologische Grundausstattung des Menschen neben den sozialen und ökonomischen Faktoren Einfluss auf das politische Geschehen nimmt. In diesem Kontext lenkt sie ihr Augenmerk auf mögliche Konsequenzen des hormonellen Status der handelnden Individuen auf die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Als Juristin war Karin Kneissl bis zum Jahre 1998 im diplomatischen Dienst der Republik Österreich tätig und ist seither freischaffende Publizistin und unabhängige Korrespondentin für mehrere Tageszeitungen. Daneben unterrichtet sie in Wien und Beirut internationale Beziehungen.
Gleich zu Beginn stellt Kneissl in ihrem Buch die Frage, ob junge Männer grundsätzlich die besseren Revolutionäre sind, da sie sich zumeist ohnehin im Kampf um Status und Anerkennung befinden. Sie geht dabei von der These aus, dass es in soziopolitischen Konstellationen, in denen es einen Überschuss an jungen Männern gibt, die zugleich ohne Perspektive und soziale Anerkennung leben, da sie sich nicht sinnvoll in die Gesellschaft einbringen können und auch sonst keine Möglichkeit haben, sich zu verwirklichen, tendenziell eher dazu neigen, einen Umsturz anzuzetteln. Getrieben werden sie durch ihre hormonelle Energie, die kein Ventil findet. Im Anschluss versucht sie, historische Revolutionen von diesem Aspekt her zu analysieren. Dabei geht sie auch auf die aktuellen Revolutionen im arabischen Raum ein, die sie ebenfalls als ein Aufbegehren von zornigen jungen Männern versteht.
In ihrer Analyse beleuchtet sie insbesondere die  gesellschaftlichen Zwänge im arabischen Kulturkreis, in welchem Würde und Status des Mannes insbesondere durch eine Heirat bestimmt ist, die aber für einen Großteil der jungen Männer ein unerreichbares Ziel bleibt. Zugleich gibt es aber auch eine sexuelle Obsession, die aufgrund der strikten Sexualmoral und der sozialen Kontrolle nicht ausgelebt werden kann. Daher versucht die Autorin im folgenden Kapitel eine naturwissenschaftliche Bestandsaufnahme betreffend Sexualhormone und deren Effekte. Obwohl sie versucht, ein differenziertes Bild zu entwerfen, erkennt man doch, dass dies nicht ihr eigentliches Metier ist. Ihre Kompetenzen liegen eindeutig bei der Politikwissenschaft. Dennoch gelingt es ihr, zu zeigen, dass der Hormonstatus jedenfalls einen Einfluss auf das individuelle Verhalten hat.
In der Folge beschäftigt sich die Autorin mit den demografischen Entwicklungen in Asien und die möglichen Konsequenzen für die Zukunft. Frau Kneissl sieht darin ein gewaltiges Potenzial für zukünftige Unruhen, Aufstände oder gar Kriege, da sich der Frauenmangel zu einer immensen Frustrationsquelle für junge Männer entwickelt. Auch der Frauenraub ist hier ein Thema, sowohl in der historischen, als auch in seiner aktuellen Dimension. Sie verweist dabei auf den Roman von Amin Maalouf („Le Premier Siecle apres Beatrice“, Paris 1992), worin viele Entwicklungen der Gegenwart vorweg genommen und mögliche Folgen illustriert werden.

In den letzten beiden Kapiteln reflektiert Kneissl wiederholt die Natur des Menschen, und zwar evolutionsbiologisch, neurophysiologisch, psychologisch, pädagogisch und philosophisch. Sie gibt dabei zu, dass ihr Buch mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet, aber das liegt wohl auch daran, dass die Wissenschaft den Zusammenhang von Geschichte und der menschlichen Biologie bisher immer sträflich vernachlässigt hat. Sie gesteht auch ein, dass die empirische Basis noch mehr als dürftig ist. Gerade deshalb ist das Buch ein wichtiger Beitrag, die Forschungen in diese Richtung zu intensivieren.

Karin Kneissl
TESTOSTERON MACHT POLITIK
Braumüller, Wien 2012 (152 Seiten)

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Wednesday, October 23, 2013

Briefe an einen jungen Forscher


In seiner kleinen Schrift „Briefe an einen jungen Wissenschaftler“ versucht der Harvard-Professor Edward O. Wilson – untergliedert in fünf thematische Abschnitte – mit kurzen und unabhängig zu lesenden Aufsätzen (Briefen) einen Leitfaden für eine wissenschaftliche Karriere zu geben. Seine fünf Generalthemen, unter die er seine Briefe einordnet, lauten dabei: Der Weg, dem man folgen muss – Der kreative Prozess – Ein Leben für die Wissenschaft – Theorie und großes Bild – Wahrheit und Ethik.

Im ersten thematischen Abschnitt, der den Werdegang eines Wissenschaftlers beleuchtet, geht es ihm vor allem um die persönliche Leidenschaft, die für den Erfolg in einer Wissenschaftsdisziplin unerlässlich ist. Leidenschaftliche Arbeit ist wichtiger als das wissenschaftliche Training für den Erfolg. Auch mathematische Talente sind in vielen Bereichen entbehrlich. Pioniere der Wissenschaft haben selten ihre Erkenntnisse aus der Mathematik bezogen. Falls man für seine Forschungen auch Mathematik braucht, soll man sich eben an Fachleute wenden. Speziell in den Biowissenschaften ist die Mathematik wenig fruchtbringend, weil die relevanten Faktoren des wirklichen Lebens häufig entweder missverstanden oder nicht erkannt bzw. übersehen werden. Außerdem gibt es fast in jeder wissenschaftlichen Disziplin mindestens einen Bereich, in denen man auch ohne Mathematik exzellente Leistungen erbringen kann. Wichtiger ist es, eine Nische zu finden, in der man zum Spezialisten aufsteigen kann. Jedes wissenschaftliche Problem bietet eine Chance. Je größer das Problem, umso besser! Jedenfalls ist es immer besser, sich abseits vom Mainstream zu bewegen.

Im Abschnitt, der den kreativen Prozess behandelt, geht Wilson zuerst der Frage nach, was Wissenschaft eigentlich ist. Für ihn ist es das organisierte und testbare Wissen von der Welt im Gegensatz zu den unzähligen Meinungen, die sich von Mythen und Aberglauben nähren. Für ihn übertrifft die wissenschaftliche Methode in der Erklärungskraft jedenfalls jeden religiösen Glauben in Bezug auf Ursprung und Sinn des menschlichen Lebens. Daher ist es für jeden Wissenschaftler essenziell, sich darauf zu besinnen, dass es um die Erforschung der realen Welt geht, und nicht um die Bestätigung von vorgegebenen Meinungen oder Trugbildern. Nur prüfbare Fakten zählen in der Wissenschaft. Wenn die Forschungsergebnisse korrekt und stimmig sind, werden sie auf Dauer jede Ideologie und jeden politischen Widerstand überwinden. Ein idealer Wissenschaftler denkt wie ein Poet und arbeitet wie ein Buchhalter. Das garantiert nachhaltige Ergebnisse. Die äußersten Grenzen der Wissenschaft kann man aber nur erreichen, wenn man auch die Landkarten kennt, die die früheren Forscher bereits gezeichnet haben. Um aber ein neues Terrainabzuklopfen, können kleine unkontrollierte Experimente sehr hilfreich sein, nur um zu sehen, ob sich etwas Interessantes auftut. Neue Technologien können dabei nützlich sein, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden (Liebe sie also nicht!). Wichtig ist aber vor allem, sich selbst treu zu bleiben.

Ein Leben für und in der Wissenschaft sieht für Wilson folgendermaßen aus: Immer gut ist es, wenn man einen Mentor findet. Also gehe man auf die Suche. Von daher ist es schon angebracht, nicht unbedingt mit dem Strom zu schwimmen. Außerdem sollte man sich in seinem Wahlgebiet gut auskennen. Auch in der modernen Biologie sind dabei gute Kenntnisse in Taxonomie und Systematik unerlässlich. Dann versuche man das Unmögliche, um etwas Außergewöhnliches zu erreichen.

Im Abschnitt „Theorie und das große Bild“ stellt Wilson fest, dass das Leben auf der Erde noch weitgehend unbekannt ist, sodass es ein leichtes ist, ein Forscher zu sein, ohne seine Umgebung unbedingt verlassen zu müssen. Wir suchen nach Mustern, die erkennbar werden, wenn sich die Puzzle-Teile zusammen fügen. Wenn so ein Muster entdeckt wird, nutzen wir es als Arbeitshilfe, um neue Untersuchungsansätze zu kreieren. Wenn die neuen Methoden nicht gut greifen, müssen sie besser adaptiert werden. Greifen sie gar nicht oder ergeben sich Widersprüche, so muss man eben nach neuen Mustern Ausschau halten. In jedem Fall erzeugt eine wissenschaftliche Antwort immer auch wieder neue Fragen. Hier zitiert er Newton: „If you see further than others, it is by standing on the shoulders of giants.“ Jedenfalls können Ambition und unternehmerischer Geist häufig fehlende Brillianz ersetzen.

Wahrheit und Ethik gehören für Wilson offensichtlich zusammen. Im letzten Abschnitt beleuchtet er den wissenschaftlichen Ethos. Die oberste Maxime für jeden Wissenschaftler ist für ihn die Verfolgung der Wahrheit. Wissen an sich ist niemals negativ zu sehen, aber was man damit anfängt – die Anwendung von Wissen – kann durchaus verderblich sein, insbesondere wenn sie für ideologische Zwecke missbraucht wird. Daher gibt es für ihn keinen großen Wissenschaftler, der ganz allein für sich in einer verborgenen Kammer arbeitet. Austausch und voneinander Lernen gehören für ihn stets dazu.

Mit seiner Anleitung für eine wissenschaftliche Karriere will Wilson jungen Wissenschaftlern etwas aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Starthilfe mit auf den Weg geben. Das ist ihm mit diesem Büchlein sicher auch gelungen. Man kann nur hoffen, dass es auch von jungen Menschen gelesen wird, um ihnen den Einstieg in die Wissenschaft zu erleichtern und Anregungen für die persönliche Karriereplanung zu geben. Im Studium hört man solche Dinge kaum – ich wäre froh gewesen, hätte es so ein Handbuch schon zu meiner Zeit gegeben.


Letters To A Young Scientist

Edward O. Wilson

Liveright Publishing Cooperation, New York 2013

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Die soziale Eroberung der Erde

Edward O. Wilson, der Doyen der Evolutionsbiologie und leidenschaftlicher Ameisenforscher, hat mit seinem neuen Buch für große Aufregung unter den Evolutionsbiologen gesorgt. Galt er doch bis jetzt als Galionsfigur der Kin-Selection (Verwandten-Selektion) unter den Soziobiologen. Doch nun hat er sich explizit vom egoistischen Gen verabschiedet und sich wieder der klassischen Evolutionstheorie zugewandt. In seinem Werk „The Social Conquest Of The Earth“ versucht er zu zeigen, dass die klassische Evolutionstheorie völlig ausreicht, um Phänomene wie soziale Lebensformen und altruistisches Verhalten zu erklären, währenddessen die Kin-Selection hier eher Probleme aufwirft als sie zu lösen. Vor allem bei den Termiten scheint das Modell zu versagen. Bei geklonten Organismen – mit der höchsten Verwandtschaftsrate  von 100% – hat man aber bisher interessanterweise noch keinen einzigen Fall von Eusozialität festgestellt.

Wenn man von einer Selektion auf verschiedenen Ebenen ausgeht (multilevel selection), dann ergibt sich unter bestimmten Voraussetzungen, dass die Selektion nicht mehr nur beim Individuum angreift, sondern auch bei der Gruppe, die mit anderen Gruppen um Ressourcen und Lebensräume konkurriert. Somit überlagert dann – abhängig von geeigneten Rahmenbedingungen – die Gruppenselektion die individuelle Selektion. Das Ergebnis ist die Entwicklung von Verhaltensweisen, die die Gruppe gegenüber anderen Gruppen fitter macht, wie Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung, Kooperation und Kommunikation. Und dieses Verhalten geht über bloße Verwandtschaftsverhältnisse weit hinaus und kann im Extremfall sogar die persönliche Fitness einschränken.

Während nach Wilson die Kin-Selection nur auf wenige Spezialfälle angewendet und daher nicht generalisiert werden kann, ist die klassische Standard-Theorie der Evolution offenbar in der Lage, alle Fälle abzudecken. In einigen Fällen sind beide Erklärungsmodelle gleichwertig, doch meistens verliert sich die Kin-Selection in unnötigen Abstraktionen, sodass sie an Relevanz und Unmittelbarkeit einbüßt. Sie zäumt das Pferd von der falschen Seite auf, indem sie von einem hypothetischen Rechenmodell ausgeht, und dieses über die biotischen Phänomene stülpt, anstatt von den Beobachtungen auszugehen, um einen passenden Algorithmus dafür zu entwickeln.

Die natürliche Selektion ist in der Regel mehrstufig: Sie wirkt auf Gene, die die biologische Organisation in mehr als nur einer Ebene bestimmen. Es geht dabei um das Verhältnis von Zelle zu Organismus oder von Organismus zu Kolonie. Das extremste Beispiel für die Selektion auf mehreren Ebenen ist ein Tumor. Krebszellen entziehen sich in ihrem Wachstum den Beschränkungen der höheren Organisationsstufe, sodass der Organismus stirbt. Gelingt ihm jedoch die Kontrolle, bleibt er am Leben.

Den Schlüssel zur „conditio humana“  findet Wilson nicht in der Evolution des Menschen, sondern schon viel früher – bereits bei der Entstehung von sozialem Verhalten im Tierreich. Allerdings liegt darin auch ein Problem, denn komplexe soziale Systeme sind selten. Wenn sie sich aber einmal etabliert haben, scheinen die Vorteile gewaltig zu sein. So überflügeln staatenbildende Insekten andere Kerbtiere in Anzahl, Biomasse und Einfluss auf ihre Umwelt gewaltig.

Der Ursprung der Eusozialität im Tierreich scheint vor allem mit dem Vorhandensein von einem Nest gekoppelt zu sein. Beim Menschen war es vermutlich die Feuerstelle. Zuerst kommt die Brutpflege, dann ein behütetes Nest, später bleiben plötzlich mehrere Generationen im Nest und beginnen mit Arbeitsteilung – auch in Hinblick auf die Fortpflanzung. Evolutiv nötig ist dafür primär nur eine einzige Mutation, nämlich der Ausfall des Gens, das für die Nestflucht (die Auswanderung der neuen Generation) verantwortlich zeichnet. So entwickeln sich soziale Gruppen, die mit anderen Gruppen wetteifern, wodurch ein evolutionärer Druck auch auf die Gruppe als Gesamtheit entsteht.

Das bisherige Modell geht davon aus, dass die Kin-Selection Gruppen zusammenschweißt, weil sie mehr oder weniger miteinander verwandt sind. Wilson widerspricht dem, indem er ausführt, dass staatenbildende Insekten evolutionär als Superorganismen funktionieren. Alle Individuen des Staates sind phänotypische Extensionen der Königin wie die Zellen eines Körpers, sodass die Evolution nur bei ihr angreift. Die genetischen Differenzen zwischen den Individuen einer Kolonie sind sogar ein Vorteil, denn sie bilden einen Schutz vor epidemischen Krankheiten. Ein klassisches Evolutionsmodell, das ohne Verwandtschaftsmathematik auskommt. Schon Darwin deutete in The Origin of Species an, dass Selektion wahrscheinlich auch bei Gruppen angreifen kann.

Mit der Entstehung von Arbeitsteilung scheint der Punkt ohne Wiederkehr erreicht zu sein; ab hier gibt es offenbar kein Zurück mehr. Die Eusozialität ist nun stabil: wir stehen zusammen oder wir fallen zusammen.

In Kolonien, die sich aus unterschiedlichen, authentischen Individuen zusammensetzen – und nicht aus phänotypischen Extensionen einer Königin – fördert die Selektion selbstsüchtiges Verhalten. Auf der anderen Seite fördert die Gruppenselektion – wenn mehrere Gruppen in Konkurrenz zueinander stehen – den Altruismus unter den Gruppenmitgliedern. In diesem Spannungsverhältnis steht auch der Mensch.

Allerdings kann die menschliche Natur weder auf die Gene reduziert werden, noch können alle kulturellen Universalien mit ihrer Hilfe erklärt werden. Sie beruht vielmehr auf epigenetischen Regeln. Daher ist der Großteil des Verhaltens von Menschen nicht wie ein Reflex fest verdrahtet, sondern erlernt, auch wenn der Mensch darauf genetisch „vorbereitet“ ist. Als Folge ergibt sich die „Gen-Kultur-Koevolution“. Das bedeutet nicht, dass der Mensch völlig frei von seiner natürlichen Basis ist, aber die möglichen Freiheitsgrade haben sich vervielfacht. Zugleich drängt die kulturelle Evolution  zweifellos die genetische Evolution in den Hintergrund. Trotzdem gibt es dabei plastische und unplastische Elemente: Keine zwei Personen haben die gleichen Fingerabdrücke. Im Gegensatz dazu schreiben die Gene immer exakt fünf Finger vor.

Wilsons Kulturbegriff lässt sich in folgendem Satz zusammenfassen: Eine kulturelle Eigenheit ist ein Verhalten, dass entweder in einer Gruppe entwickelt oder von einer anderen Gruppe übernommen wird, um sie dann in der eigenen Gruppe zu pflegen und weiterzugeben. Das psychische Innenleben macht den Menschen aber einmalig und besonders: Stirbt ein Mensch, geht ein ganzer Kosmos verloren.

Doch was war die treibende Kraft für die Entwicklung der menschlichen Kultur? Laut Wilson war es die Gruppenselektion. Gruppen, deren Mitglieder die Intentionen anderer erahnen konnten und bereit zur Kooperation waren, hatten einen enormen evolutiven Vorteil gegenüber anderen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Wie bereits Darwin vermutete, passen Sprache und ihre basalen Mechanismen deshalb so gut zusammen, weil sich die Sprache dem menschlichen Gehirn anpasste, und nicht umgekehrt. Für Wilson sind es die Feinheiten der Gen-Kultur-Koevolution, die uns ein fundamentales Verständnis der „conditio humana“ liefern können.

Ein Dilemma, das aus der Evolution auf mehreren Ebenen ergibt, spiegelt sich in den Begriffen „gut“ und „böse“ wider.  Individuelle Selektion und Gruppenselektion greifen beide prinzipiell auch beim Einzelwesen an, treiben aber in entgegengesetzte Richtungen. Daraus ergibt sich die eiserne Regel in der sozialen Evolution: Eigennützige Individuen setzten sich gegenüber uneigennützigen durch, währenddessen altruistische Gruppen sich gegenüber Assoziationen von selbstsüchtigen Eigenbrötlern behaupten. Wenn in der menschlichen Evolution die Gruppenselektion dominiert hätte, würden unsere Gesellschaften Insektenkolonien gleichen. Aber der Mensch ist auch kein „homo oeconomicus“, der ausschließlich auf den eigenen Nutzen fixiert ist.

Verwandtenselektion ist nach Wilson nicht der Schlüssel für die evolutionäre Dynamik hin zur Eusozialität. Was wirklich zählt, ist eine natürliche (sprich ererbte) Neigung Allianzen und Netzwerke zu bilden, Informationen auszutauschen, aber auch Verrat zu üben.

Ernst Fehr und Simon Gächter haben das Problem 2002 wie folgt umrissen: „Menschliche Kooperation ist ein evolutionäres Rätsel. Anders als alle anderen Lebewesen kooperieren Menschen häufig mit genetisch nicht verwandten Fremden, häufig in großen Gruppen, mit Menschen, denen sie nie wieder begegnen werden, und selbst wenn der Gewinn in Hinsicht auf Fortpflanzung gering ausfällt oder ganz fehlt. Als Erklärung für diese Kooperationsmuster taugen weder die Evolutionstheorie der Verwandtenselektion noch die egoistischen Motive, die mit der Zeichentheorie oder der Theorie des reziproken Altruismus assoziiert werden.“

Wilson wirft in seinem aktuellen Buch Fragen auf, die lange Zeit als Tabu galten. Einigen geht er sicher zu weit, wenn er Kunst, Kultur und Ethik, aber auch die Religion (Zitat: Religiöser Glaube ist die unbemerkte Falle, die in der biologischen Geschichte unserer Art unvermeidbar ist. […] Die Menschheit verdient besseres.) von der Perspektive der Evolutionstheorie aus beleuchtet, aber das ist meiner Meinung nach durchaus legitim.

Immerhin versucht er Lösungen anzubieten, indem er auf altbewährte Modelle zurückgreift. Damit hat er international Empörung in der „science community“ der Soziobiologen ausgelöst. Wie immer man zu seinen Aussagen stehen mag, eines zeichnet sich immer klarer ab: die gängigen Evolutionsmodelle greifen zu kurz, sie erfassen nicht die ganze belebte Wirklichkeit. So lassen sie sich auf viele Phänomene der Natur nur eingeschränkt anwenden. Zudem tauchen immer wieder Instanzen auf, die die Verwandtenselektionstheorie explizit ausschließt. Nicht, dass ich der Meinung wäre, dass jede negative Instanz eine Theorie automatisch obsolet macht, das wäre unpragmatisch “das Kind mit dem Bade ausschütten“. Eine Widerlegung ist auch nicht immer eindeutig. Wenn sich aber die Widersprüche gegenüber der Empirie häufen, sollte man sich doch Gedanken machen. Insofern ist das Buch Wilsons eine wichtige Anregung, um sich mit Problemen und Lösungsansätzen der Evolutionsbiologie neu und unvoreingenommen auseinander zu setzen. Das letzte Wort ist hier sicher nicht gesprochen.
 
 
 
 
Edward O. Wilson
The Social Conquest Of The Earth
Liveright Publishing Corporation
New York and London, 2012
 
 
 

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