Biologie und Ethik der Homosexualität
Moraltheologische Seminararbeit, Graz 1992
(ergänzt und überarbeitet 2015)
Einleitung
Da es ums Thema Homosexualität geht, muss zuvor einmal eine
Begriffsbestimmung erfolgen. Der Ausdruck ist eine Schöpfung des Arztes Karoly
Maria Benkert. Das Wort selbst klammert zwar psychische Komponenten aus, da es
ein Verhalten (behaviour) bezeichnet, wird aber zunehmend in einem
umfassenderen Sinn gebraucht. Neben der griechischen Vorsilbe homo- für
„gleich“ enthält der Begriff auch das lateinische Wort sexus (Abteilung,
Geschlecht). Damit kommt der ganze Komplex „Geschlechtlichkeit“ ins Spiel. In
den Wissenschaften differenziert man zunächst drei Arten davon: das
biologische, das soziale und das psychische Geschlecht. Und beim scheinbar so
eindeutigen biologischen Geschlecht lässt sich noch ein phänotypisches von
einem genotypischen unterscheiden. Aber dazu später.
Vorwegschicken muss ich daher, dass ich den Begriff
„homosexuell“ im Folgenden auf zwei Arten gebrauchen werde: einerseits im engen
behavioristischen Sinn und andererseits in der umfassenderen – die Psyche des
Menschen einschließenden – Bedeutung.
Prämissen
Zuerst eine Tatsachenfeststellung: es gibt zumindest ein
Lebewesen, von dem gilt, es ist homosexuell. Folgt man dem augustinischen
Grundsatz, dass alles das, was ist, auch gut ist, dann dürfte man aus
christlich-theologischer Sicht Homosexualität eigentlich nicht negativ bewerten.
Denn: Ex qua est omne quicquid est, in quantum est; quia in quantum est,
quicquid est, bonum est (De vera religione).
Außerdem möchte ich vorausschicken, dass ich mich in diesem
Beitrag hauptsächlich auf Volker Sommer (1990) stütze.
Aufbau
Nach der Einleitung werden im Hauptteil drei Aspekte der
Homosexualität aufgegriffen: Einführend wird die Biologie der Homosexualität
behandelt, dann wird auf die Entstehungstheorien eingegangen, im Anschluss
folgt die Bewertung der Theologie. Der Schluss befasst sich allgemein mit den
Argumenten pro und contra Homosexualität.
Nachgestellt wird ein persönliches Statement.
Außer Betracht
Unbeachtet bleiben zeitliche und örtliche Aspekte (sofern sie
nicht für das Verständnis relevant sind). Außerdem werde ich neben der
geschichtlichen und ethnologischen auch die juridische Dimension aussparen. Wer
sich speziell mit der Geschichte der rechtlichen Beurteilung von Homosexualität
befassen will, dem sei das Buch von Gisela Bleibtreu-Ehrenberg ans Herz gelegt:
Homosexualität. Die Geschichte eines
Vorurteils. Frankfurt 1978. Darin wird auch die Gesetzgebung behandelt.
Homosexualität
1.
Bestandsaufnahme
Lange Zeit galt die Ansicht, Homosexualität sei
ausschließlich bei der Art Mensch – als eine Form der Entartung – zu finden. Es
handle sich also um etwas Widernatürliches. Die moderne Verhaltensforschung
belegt jedoch eindeutig, dass sämtliche unter den Menschen praktizierten Varianten
homosexuellen Verhaltens auch im Tierreich vorkommen. Dass dies erst in den
letzten Jahrzehnten (wenn man von der Antike absieht) langsam bekannt wird,
lässt sich auf mangelnde Objektivität und Sorgfalt der Ethologen zurückführen,
die mit der Vorgefassten Meinung an die Sache herangingen, dass nicht sein
kann, was nicht sein darf. Und wenn solche Beobachtungen wirklich in den
Protokollen notiert wurden, dann ließ man sie in der Regel als nicht relevante
Ausnahmeerscheinung unter den Tisch fallen.
Demgegenüber ergaben 2000 Stunden Beobachtung bei 220 wilden
Berggorillas in Ruanda insgesamt zehn sexuelle Weibchen/Weibchen-Akte. Wie lang
müsste man wohl zweihundert Menschen folgen, bis es zu einem sexuellen Kontakt
zwischen zwei Frauen kommt?
Um eine kleine Bestandsaufnahme
zu machen, möchte ich hier einige Belege homosexueller Spielarten unter Tieren
aus der Verhaltensforschung vorstellen (nach Sommer 1990):
Bei fünf Arten von monogam lebenden Seemöwen wurden bisher
lesbische Verbindungen beobachtet. Bei der südkalifornischen Art Larus occidentalis bestehen 8 bis 14
Prozent aller Paare aus zwei Weibchen. Beide verteidigen ein gemeinsames
Territorium, bebalzen einander, bauen ein Nest und wechseln einander beim
Brutgeschäft ab. In etwa 10 bis 20 Prozent der Fälle sind die Eier sogar
befruchtet, was belegt, dass Monogamie nichts mit Treue zu tun hat.
Ein interessantes Beispiel liefert auch das Meerschweinchen
(Cavia apera). In kleinen Gruppen bis
zu etwa fünf Individuen beiderlei Geschlechts gelingt es dem ranghöchsten
Männchen, alle Weibchen zu monopolisieren. Bei einer höheren Populationsdichte
ist es dem Alpha-Männchen offenbar nicht mehr möglich, alle Weibchen zu
monopolisieren, und es gibt daher mehrere Haaremsbesitzer nebeneinander. In jedem Fall gehen die Nicht-Besitzer leer
aus, weil sie den Besitzern unterlegen sind und daher keine Weibchen
monopolisieren können. Etwa 10 Prozent aller Männchen entwickeln hier eindeutig
homosexuelle Präferenzen. Sie adressieren ihre Interessensbekundungen – etwa
mittels Anal-Schnuppern, Purr-Lauten und „Rumba“-Tanz – ausschließlich auf ein
ganz bestimmtes anderes Männchen. In einem Experiment wurde ein solches
Männchen in eine fremde Gruppe umgesetzt. Doch auch hier beschränkte es sich in
seinem Werbeverhalten auf ein ganz bestimmtes anderes Männchen.
Die Universität Göttingen studierte seit dem Jahr 1977 das
Verhalten der Leguren-Affen (Kasi johnii)
in Rajasthan. Dabei wurden in 3000 Beobachtungsstunden von einer 15-köpfigen
Haremsgruppe genau 524 lesbische Episoden registriert. Während des
sechsjährigen Beobachtungszeitraums nahm jedes Weibchen der Gruppe sexuelle
Kontakte zu anderen Weibchen auf. Das war eine entscheidende Beobachtung, denn
die oft vertretene These, dass nur einige pathologische, hormonell
irregeleitete Tiere ein solches Verhalten an den Tag legen, ist damit
widerlegt.
Bei Bonobos oder Zwergschimpansen (Pan troglodytes paniscus), übrigens unsere nächsten Verwandten,
sind sowohl in der Gefangenschaft – wie auch in der freien Natur – verschiedene
homosexuelle Praktiken beobachtet werden. Sie streicheln einander gegenseitig
ihre Genitalien und pressen sie in Erregung aneinander.
Die Rhesusaffen (Macaca
mulatta) zeigen ein ausgeprägtes Vorspiel: Da gibt es „Schmatzen und
Umkreisen“, „Küssen und Wegrennen“, „Nasenreiben“, „Verfolgungsjagden“ etc.,
die dann immer in einem Aufreiten mit erkennbarem Orgasmus enden. Bei Männchen
wurde Analverkehr mit Ejakulation beobachtet. Oft folgt der Begegnung eine
Umarmung. Es drängt sich ein Vergleich
mit menschlichem Sexualverhalten auf. Die Ähnlichkeiten bei Vor- und Nachspiel
sind frappant. Zudem widerlegen diese Befunde die These, dass Homosexualität im
Tierreich eine Ersatzhandlung sei und ausschließlich auftritt, wenn keine
Partner des Gegengeschlechts verfügbar sind.
Sehr spielartenreich ist auch das homosexuelle Repertoir der
Bärenmakaken (Macaca speciosa), das
von der kalifornischen Stanford-University beschrieben wurde. Es umfasst
mutuelle Stimulation der Geschlechtsteile mit Händen oder durch lecken und
Saugen sowie auch Analverkehr. Besonders auffällig war die sexuell getönte
Beziehung zwischen einem Alpha-Männchen und einem Heranwachsenden. Der Ältere
verteidigte seinen Gefährten bei aggressiven Auseinandersetzungen, und der
Jüngere kuschelte sich regelmäßig in das Bauchfell des Älteren, wobei das
Alpha-Tier dessen Genitalien umfasste. Häufig begab sich der Ältere gleich nach
der Begattung eines seiner Weibchen zu seinem Gespielen. Diese homosexuelle
Beziehung drückt also nicht einen Mangel an Sex mit Weibchen aus, sondern weist
eine stark emotionale Bindung aus.
Beim Menschen sind solche Untersuchungen ungleich
schwieriger, da es sich um einen sehr intimen und subjektiven Bereich handelt. Behavioristische
Methoden bilden zwar eine Basis, sparen aber wichtige psychische Aspekte der
Sexualität aus. Trotzdem gibt es zurzeit immer mehr Literatur, die sich mit
diesem Thema befasst. Am bekanntesten
sind die Erhebungen von Kinsey et al. (1934, 1949, 1953), da sie
Pionierarbeiten auf diesem Gebiet darstellen. Sie machten damals die
schockierende Feststellung, dass homosexuelles Verhalten unter Menschen weit
häufiger anzutreffen ist, als bis dahin angenommen. Aus dieser Studie wurde die
These abgeleitet, dass es ein sexuelles Kontinuum gibt. Grundsätzlich würden
sich die Menschen gleichmäßig auf dieser Skala verteilen.
Was die Biologie ganz allgemein zum Thema Homosexualität zu
sagen hat, fasst Alfred Kinsey ganz richtig so zusammen (1949): „Ob solches
Erbe eine angemessene Basis dafür ist, irgendeine Aktivität als richtig oder
falsch, sozial wünschenswert oder nicht-wünschenswert einzuschätzen, ist eine
Frage, die wir nicht stellen, und die wir nie gestellt haben. Wir glauben
jedoch, dass Sexualakte, die nachgewiesen zum stammesgeschichtlichen Erbe einer
Spezies gehören, nicht als gegen die Natur gerichtet, biologisch unnatürlich,
abnormal oder pervers eingestuft werden können.“ (Zitiert nach Sommer 1990)
2.
Entstehungstheorien
Viele Homosexuelle verwahren sich gegen Forschungen in Bezug
auf die Ätiologie ihrer Veranlagung, da sie dahinter das Motiv wittern,
letztendlich ihre Lebensform aus der Welt zu schaffen. Unabhängig davon bleibt
die Sache von naturwissenschaftlichen Interesse, aus dem einfachen Grund: für
Wissen selbst kann und darf es keine Zensur geben – wohl aber für die Anwendung
von Wissen. Ethik kann sich niemals auf das Sein beziehen, sondern immer nur
auf das Handeln.
2.1.
Proximate
Theorien
Proximate Theorien fragen nach den unmittelbaren Ursachen
eines Phänomens. Ihre Methoden sind die Erfassung von Kausalzusammenhängen und
die analytische Reduktion. Zugleich sind das auch deren Hauptprobleme.
2.1.1.
Psychonanalyse
Am bekanntesten ist wohl die Theorie Sigmund Freuds, der von
der Annahme ausgeht, dass aus einer bisexuellen Grundausstattung des Menschen
ein heterosexuelles Zielstadium hervorgeht. Interessant an dieser Theorie ist
einerseits, dass sich ein menschlicher Embryo am Anfang wirklich zwittrig (hermaphroditisch)
darstellt, die Anlagen sind also zuerst für beide Entwicklungslinien noch
offen. Erst durch hormonelle Steuerung werden die weiblichen Anteile
rückgebildet und die männlich herausgeformt. Bleiben die spezifischen Hormone (vor
allem Dihydrotestosteron und Anti-Müller-Hormon) aus oder sind die
entsprechenden Rezeptoren defekt, so wird aus dem Embryo jedenfalls ein Mädchen
(auch wenn er genotypisch männlich wäre, also ein Y-Chromosom besitzt). Man
spricht daher auch von der primär weiblichen Geschlechtsausstattung des
Menschen. Außerdem lässt sich die Theorie auch gut mit den Kinsey-Ergebnissen
in Einklang bringen.
Im Detail besagt die Theorie Freuds, dass ein Knabe in der
sogenannten phallischen Phase sein Interesse auf sein eigenes Genitale
konzentriert. Beim normalen Knaben folgt auf dieses autoerotische Stadium die
Zuwendung auf das andere Geschlecht in Form der Mutter. Bleibt dieser Schritt
aus, so verharrt der Knabe im Narzissmus, fixiert sich auf den Penis und
entwickelt sich homosexuell. Und die Folge daraus? Kastrationsangst. Sie
entsteht angeblich durch die schreckliche Entdeckung, dass Mädchen keinen Penis
haben. Was beim Jungen die postulierte Kastrationsangst, ist beim Mädchen in
Analogie der Penisneid. Durch ihn wendet sie sich dem Vater zu. Fürchtet sie sich
jedoch vor dem Penis, wird sie lesbisch.
Obwohl Freud ein Pionier auf seinem Gebiet war, gilt seine
Theorie insofern als überholt, da seine Erfahrungen sehr schichtbezogen und
nicht repräsentativ waren. Außerdem beruhen seine Aussagen und Begriffe oft auf
Zirkelschlüssen, und sind daher weder veri- noch falsifizierbar. Somit handelt
es sich eigentlich um metaphysische Modelle, die keine empirische Bedeutung
haben.
2.1.2.
Prägung
Die Prägungstheorie, die auf der Instinkttheorie von Niko Tinbergen
und Konrad Lorenz fußt, geht von einem amorphen sexuellen Trieb aus, der noch
nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Erst in einer bestimmbaren,
sensiblen Phase wird vom Jungtier sozusagen „erlernt“, worauf sich dieser Trieb
richten soll. Man verwendet hier allerdings den Begriff „Prägung“, da dieser
Prozess in der Regel irreversibel ist. In einer Studie vom Max-Plank-Institut
für Verhaltensphysiologie (Schutz 1971) wird mit Erstaunen festgehalten:
„Besonders interessant sind Erpel, die das Versuchsbiotop im Frühling
verlassen, und im Herbst wieder mit demselben Männchenpartner zurückkehren.
Auch die Homosexualität ist also überraschend stabil.“
Weiters wird festgestellt, dass homosexuelle Tiere immer auf
die eigene Art geprägt sind und dass auch bei heterosexuellen Tieren
konstitutiv ein Hang zur eigenen Art wesentlich ist, da sie sich bei
Abwesenheit von Weibchen mit Männchen der eigenen Art verpaaren – nicht aber
mit Weibchen anderer Arten.
Die Kritiker der Prägungstheorie weisen darauf hin, dass ein
direkter Vergleich zwischen Menschen und Tieren (in diesem Fall Vögel) nicht
möglich sei. Experimente beim Menschen sind begreiflicherweise nicht
durchführbar.
2.1.3.
Hormone
Eine hormonelle Theorie liefern Money et al. (1984) sowie Dörner
et al. (1983). Föten, die genotypisch weiblich sind, erlauben prinzipiell drei
bereits bekannte Ontogenesen: ist der Fötus androgenresistent, entwickelt er
sich gemäß der primären Geschlechtsausstattung phänotypisch zu einem Mädchen.
Es hat zwar nur kleine Brüste und bleibt unfruchtbar, entfaltet sich aber
soziosexuell völlig normal zu einer heterosexuellen Frau mit durchschnittlicher
sexueller Aktivität. Bei partieller Adrogenreistenz ist das Baby bei der Geburt
ein (unechter) Zwitter. Es entwickelt sich soziosexuell entsprechend der
anerzogenen Geschlechtsrolle, je nachdem, wie das Geschlecht des Baby gedeutet
wurde. Später werden oft chirurgische Korrekturen vorgenommen. Wird der Fötus stark androgenisiert, wird aus
ihm ein heterosexueller Junge. Interessant sind die Fälle jener Föten, die zwar
normal androgenisiert wurden, zusätzlich aber auch noch stark Östrogenen
ausgesetzt waren. Hier dürfte laut Money die Disposition zu Homosexualität
begründet liegen.
Gleiches gilt für genotypisch weibliche Föten, die sich
unter Androgeneinfluss befinden. Im Extremfall entwickeln solche Kinder einen
Penis. Zumindest ist das soziale Verhalten deutlich maskulinisiert und die
sexuelle Orientierung nicht selten lesbisch (17% homosexuell, 48% bisexuell).
John Money betont allerdings, dass dies nur eine Disposition
ausdrückt; er sieht vielmehr in soziokulturellen Einflüssen die Hauptursache
für die spätere Ausformung der Sexualität. Hingegen meint Gunter Dörner, die
sexuelle Identität sei primär physiologisch bedingt. Er experimentierte mit
Ratten, wo es ihm gelang, mit entsprechender Hormonmanipulation das
Sexualverhalten völlig umzupolen. Seine Theorie
besagt, dass die Ausdifferenzierung des Hypothalamus von der hormonellen
Umgebung des Embryos bestimmt wird. Entwickelt sich der Hypothalamus unter
Androgeneinfluss, so wird der Probant später meist männliches Sexualverhalten
an den Tag legen. Wird der Hypothalamus hingegen östrogenisiert, ist das
spätere Sexualempfinden weiblich. Ein östrogenisierter Hypothalamus reagiert
gewöhnlich auf spätere Östrogengaben mit der Produktion von luteinisierendem
Hormon (LH). Ein androgenisierter Hypothalamus zeigt späterhin überhaupt keine
Reaktion darauf. Tatsächlich konnte Dörner zeigen – von einer unabhängigen
amerikanischen Studie bestätigt – dass sowohl männliche homosexuelle Ratten wie
auch ebensolche Menschen auf die Injektion von Östrogen mit einer
LH-Ausschüttung reagieren. Als Ursache für das Zustandekommen dieses Syndroms
gibt Dörner Stress währen der Schwangerschaft an, da hier der gewöhnliche
Hormonhaushalt der Mutter aus dem Ruder läuft.
2.1.4.
Anatomie
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Forschungen des
Biologen LeVay (1991). Er behauptet, das biologische Substrat der
Homosexualität gefunden zu haben. Er stellte fest, dass männliches
Sexualverhalten mit einem großen interstitiellen Kern im Hypothalamus
einhergeht. Mir sind keine Vergleichstudien bekannt, und daher kann ich auch
nicht beurteilen, wie gut abgesichert seine Ergebnisse sind, aber sofern der
Zusammenhang stimmt, ist es durchaus auch möglich, dass das soziosexuelle
Verhalten und die Größe des Nukleus unabhängige Folgen einer gemeinsamen
Ursache sind.
2.2.
Ultimate
Theorien
Ultimate Theorien fragen nicht nur nach den Ursachen einer
Erscheinung, sondern auch nach deren (systemischer) Funktion. Sie sind insofern
von vornherein etwas kritisch zu betrachten, da in ihnen nicht selten ein
bisschen Teleologie mitschwingt. Der Ansatz ist mehr oder weniger holistisch.
2.2.1.
Fortpflanzungsregulativ
Altbekannt ist die Theorie, dass Homosexualität als
Regulativ bei Überbevölkerung auftrete. Bei Ratten konnte das sogar
nachgewiesen werden. Auch der zuvor erwähnte Dörner schlägt in dieselbe
Bresche. Sie scheint aber aufgrund des viel zu spät einsetzenden Effekts beim
Menschen als unwahrscheinlich. Außerdem scheint Homosexualität den Menschen
auch zu begleiten, wenn keine Überbevölkerung vorliegt, wie man zum Beispiel aus
der Geschichte weiß.
2.2.2.
Helfer
am Nest
Um das relativ konstante Auftreten von Homosexualität
evolutionsbiologisch zu erklären, wurde das „Nesthelfer“-Syndrom als
theoretischer Ansatz herangezogen. Verzicht auf direkte eigene Nachkommen, um
die Aufzucht junger Blutsverwandter zu unterstützen, ist bei verschiedensten
Spezies bekannt, z.B. bei Bienen, Blaubuschhähern, Krallenaffen, Zwergmungos
oder Nacktmullen. Unter den Helfern bei Mungos kommt es tatsächlich auch zu
homosexuellen Kopulationen. Der selektive Vorteil liegt hier darin, dass Kopien
des eigenen Erbgutes nicht nur durch die eigenen Kinder weitergegeben werden,
sondern indirekt auch über
Blutsverwandte: maximal 50% über Geschwister, 25% über Neffen und Nichten und
12,5% über Cousinen. Wenn die Nutznießer altruistischen Verhaltens nahe
Verwandte sind, steigt wahrscheinlich sogar indirekt der eigene
Fortpflanzungserfolg. Auf alle Fälle erhöht sich so die „Gesamtfitness“ der
Familie (Wilson 1975).
Wie es jedoch zu solchen „Helfern am Nest“ kommen soll, ist
nicht einwandfrei geklärt. Das genetische Modell funktioniert analog der
Vererbung der Sichelzellenanämie. Ein anderes Modell nimmt die (bewusste der
unbewusste) Einflussnahme der Eltern auf die Entwicklung der Kinder an. Für
Elter lohnt es sich, nach diesem Modell, Helfer am Nest heranzuziehen, ob durch
psychische Beeinflussung oder pränatale Prägung, wenn der Fortpflanzungserfolg
an unteilbare Ressourcen geknüpft ist. Nicht nur in der abendländischen Sozial-
und Kulturgeschichte kennt man Syndrome, in denen Erb- und Thronfolgen,
Zölibat, Kinderlosigkeit und Familiensolidarität miteinander verwoben sind.
Obwohl denkmöglich, hat diese Verknüpfung von
Homosexualität, Verwandtenunterstützung und elterlicher Manipulation meiner
Meinung nach einen weitgehend spekulativen Charakter.
3.
Theologie
3.1.
Das
Alte Testament
Die Stellungnahmen des Alten Testaments zum Thema
Homosexualität sind eindeutig. Die diesbezüglichen Verbote befinden sich im 3.
Mose 18/22 sowie im 3. Mose 20/13. Sie fordern die Todesstrafe. Allgemein
bekannt ist vor allem die Stelle im 1. Mose 19/1-28, die Geschichte von Sodom
und Gomorra. Jüngst pflegt die Stelle als Bruch des Gastrechts interpretiert zu
werden; aber diese Deutung ist äußerst unplausibel, da die Vernichtung der
Städte längst beschlossen war, schon bevor sich der Vorfall mit den Boten
Gottes ereignete. Die Szene soll nur noch einmal post hoc Gottes Zorn
rechtfertigen.
HuK-Christen
[*]
möchten gern im 2. Samuel 1/26 eine
alttestamentarliche Gutheißung der homosexuellen Liebe sehen, und es ist auch
wahrscheinlich so, dass im Alten Bund sublime, platonische Liebe unter Männern
sicher nicht untersagt gewesen ist. Aber mehr lässt sich aus dieser Stelle beim
besten Willen nicht herauslesen.
3.2.
Das
Neue Testament
Weniger Klarheit besitzt das Neue Testament. Liest man die
betreffenden Stellen (Römerbrief 1/20-31, 1. Korinther 6/9-11, 1. Thimotheus
1/8-11, Judas 5-8) unvoreingenommen, so scheinen sie eher Warnungen an die
Gemeindemitglieder zu sein und nicht als Verbote, die weltlich geahndet werden müssen. Würde
man aufgrund des Verses in Römer 1/32 die Todesstrafe fordern, so müsste sie analog
auch bei Geiz und Unvernunft angewendet werden. Außerdem ist die Übersetzung
nicht immer korrekt. Im griechischen Originaltext steht im 1. Korinter 6/9:
…ούτε μαλακοί ούτε αρσενοκοίται. Das würde in modernem Deutsch etwa so klingen:
weder Weicheier noch Stricher.
Die HuK sieht gern im Vers Markus 10/21 Hinweise auf
homosexuelle Tendenzen bei Jesus, doch das ist sehr wahrscheinlich eine
Überinterpretation, die dem Wunschdenken erwächst.
Ich will hier aber keine Bibelexegese betreiben, zumal sie
auch nicht mein Fach ist. Ich möchte nur festhalten, dass das Neue Testament
zwar Homosexualität als Unsitte anprangert, wobei sich die Stellen in den
Apostelbriefen nicht direkt auf Jesus zurückführen lassen, es fordert aber
keinerlei Sanktionen gegenüber Homosexuellen.
3.3.
Die
katholische Kirche
In den Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 72 (1986)
heißt es auf der Seite 4: „Die spezifische Neigung der homosexuellen Person ist
zwar sicher nicht sündhaft, begründet aber eine mehr oder weniger starke
Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist.
Aus diesem Grund muss die Neigung selbst als objektiv ungeordnet betrachtet
werden.“ Andererseits heißt es darin auch (Seite 12): „…dass jede Person
dieselbe fundamentale Identität zukommt: nämlich Geschöpf zu sein und durch die
Gnade Kind Gottes, Erbe des ewigen Lebens.“ Ist somit nicht auch der
homosexuelle Mensch ein Geschöpf Gottes und daher von ihm angenommen?
Jüngst hat sich Papst Franziskus (2013) zum Thema geäußert –
allerdings eher im Sinne einer diplomatischen Enthaltung. Die Kirche soll sich mit
Fragen zur Abtreibung, zur homosexuellen Ehe und zur Verhütung einfach nicht
befassen. Die Haltung der Kirche dazu sei ohnehin bekannt. „Homosexuelle Akte“ sind
für ihn aber nach wie vor verurteilungswürdig.
[†]
3.4.
Die
evangelische Kirche
Im Vorwort des Arbeitspapieres der rheinischen Landessynode
1992 zur „Homosexuellen Liebe“ heißt es auf der Seite 5 und 6: „Auch wenn die
humanwissenschaftlichen Ergebnisse des Theologischen Ausschusses von manchen
Synoden für nicht gesichert und seine biblische Auslegung für nicht
nachvollziehbar gehalten werden, so ist sich doch die gesamte Synode darin
einig, dass eine moralische Verurteilung von homosexuell lebenden und liebenden
Menschen dem Geiste des Evangeliums nicht entspricht und seelsorglich nicht
weiterführt. Darum sollen die strittigen Fragen nicht über die Köpfe der
Betroffenen hinweg bedacht und entschieden werden.“ Offenbar hat sich hier bereits
eine humanistische Haltung durchsetzen können.
Zum Abschluss diese Kapitels möchte ich noch ein Zitat aus
dem Matthäusevangelium bringen (Matthäus 7/1): „Richtet nicht, auf dass ihr
nicht gerichtet werdet.“ Selbst wenn die Homosexualität vor Gott eine Sünde
ist, so steht es den gläubigen Christen dennoch nicht zu, darüber zu urteilen
(Vergleiche dazu auch: Johannes 8/15; Römer 2/1, 1. Korinther 4/5).
3.5.
Der
Islam
Im Qur’an wird Homosexualität an keiner Stelle erwähnt, daher
gibt es von daher auch keine Hinweise in Bezug darauf, wie Homosexualität im
Islam zu bewerten ist. Allerdings gibt es Hadithe, die sich mit dem Phänomen
befassen. Hadithe sind überlieferte Aussagen des Propheten, die zwar keine
Offenbarungen darstellen, aber dennoch bei sittlich-rechtlichen Fragen
herangezogen werden, sofern diese nicht durch den Qur’an abgedeckt sind. Folgender
Hadith befasst sich explizit mit diesem Thema (nach Sahih Al-Buhari 1991):
„Wenn jemand ein homosexuelles Verhältnis zu einem Jungen hat, darf er die
Mutter dieses Jungen auf keinen Fall heiraten.“
Dieser Hadith zeigt, dass homosexuelles Verhalten
ursprünglich im Islam nicht sanktioniert wurde. Ganz im Gegenteil, es kommen
dieselben Inzestverbote zur Anwendung, die auch für heterosexuelle Kontakte
gelten. Die rezente Ablehnung und Verfolgung von Homosexuellen, die völlig
unhistorisch ist (man lese nur die Gedichte von Hafis), wurde von den
europäischen Kolonialisten importiert. Leider haben viele Völker diese
europäische Homophobie, die vermutlich germanischen Ursprungs war und sich in
der Neuzeit im Zuge des Naturrechts
in Europa allgemein durchsetzte,
unhinterfragt übernommen und weitertradiert, während sie hier in Europa bereits
wieder überwunden wurde.
4.
Schlussbetrachtungen
4.1.
Argumentationsanalysen
Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen können prinzipiell
nur zu zwei Urteilen führen: Entweder ist Homosexualität als natürlich zu
betrachten – oder als unnatürlich. Jede dieser beiden kontradiktorischen
Behauptungen muss klarerweise durch Fakten belegt werden. Rezente Studien geben
eindeutig der ersten Aussage Evidenz, vor allem, da Urteile über die
Naturgemäßheit eines Ereignisses oder Phänomens nur daran gemessen werden können,
ob etwas in natura vorkommt oder nicht. Somit ist Homosexualität natürlich
natürlich!
Aber bleiben wir noch ein bisschen theoretisch: Falls die
Frage nach der Natürlichkeit von Homosexualität empirisch nicht entscheidbar
wäre, ergeben sich vier klassische Argumentationsmuster pro und kontra
Homosexualität.
4.1.1.
Das
Argument „contra naturam“
Wenn Homosexualität im Tierreich nicht vorkommt, ist sie
moralisch abzulehnen.
Bereits im Römerbrief begegnet uns dieses Argument. Es wurde
sogar noch 1974 von einem Biologen vertreten (Hunt 1974). Zwar kann der
Vordersatz als widerlegt betrachtet werden, dennoch wäre das Argument gültig,
falls der Nachsatz stimmen sollte, da die Wahrheit einer Subjunktion immer nur
von der Wahrheit des Nachsatzes abhängt.
4.1.2.
Das
Argument „ultra naturam“
Dieses Argument sagt: Gerade weil Homosexualität im
Tierreich nicht auftritt, sei sie besonders hoch zu bewerten. So schreibt der
Autor Pseudo-Lucian im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (zitiert nach Sommer
1990): „Löwen kennen solche Liebe nicht, da sie nichts über Schönheit wissen,
die aus Freundschaft erwächst.“
Auch hier gilt, dass zwar das Vorderglied falsch ist, die
Subjunktion aber dennoch wahr sein kann (siehe 4.1.1.).
4.1.3.
Das
Argument „natura animalis“
Gerade weil Homosexualität als tierisch gilt, ist sei unter
Menschen abzulehnen.
Dieses frühchristliche Argument findet sich zum Beispiel in
der Epistel des Barnabas (eine Apokryphe). Hier stimmt zwar das Antezedens,
deshalb muss aber nicht notwendigerweise die ganze Subjunktion stimmen (siehe
4.1.1.).
4.1.4.
Das Argument „sit quid est“
Dieses – auf den ersten Blick einleuchtendste – Argument
leitet aus der Natürlichkeit des Phänomens seine moralische Rechtfertigung ab:
Weil Homosexualität im Tierreich vorkommt, ist sie moralisch unbedenklich.
Aber hier liegt ein typischer Fall eines naturalistischen
Fehlschlusses vor, den David Hume erstmals entlarvte. Auch Katastrophen und
tödliche Krankheiten wären demnach gut zu heißen. Formal ist das Argument
wieder nur gültig, wenn man den Nachsatz als wahr akzeptiert (siehe 4.1.1.).
5.
Schlussfolgerung
Die Konklusion aus der Betrachtung der Argumente kann also
nur lauten, dass uns die Natur prinzipiell keinen Hinweis darauf geben kann,
wie etwas zu bewerten ist. Die Wahrheit der Argumente hängt in allen Fällen
ausschließlich davon ab, ob man den Nachsatz für wahr oder falsch hält. Ist
Homosexualität gut, so stimmen beide Argumente, die dafür sprechen. Ist sie
schlecht, stimmen die beiden anderen Argumente. Das hilft uns also nicht weiter.
Im Grunde handelt es sich stets um eine ungültige
Verknüpfung von normativen Urteilen mit Existenzaussagen. Es ist also in jedem
Fall von einem naturalistischen Fehlschluss auszugehen. Die Natur selbst kann
niemals die Grundlage einer Ethik sein: „No Ought from an Is!“
6.
Stellungnahme
Die ganze Abhandlung war bisher eher abstrakt gehalten. Doch
nun will ich meine persönliche Stellungnahme dazu abgeben. Vorausschicken
möchte ich jedoch, dass die menschliche Homosexualität nicht nur ein Verhalten
darstellt, sondern auch Ausdruck eines psychischen Affektes ist, nämlich der
Liebe!
Da uns die Natur keine Argumentationshilfen liefert, will
ich utilitaristisch an die Sache herangehen. Ich stelle daher die Frage: Wem
nutzt oder schadet homosexuelles Handeln?
Meine persönliche Antwort lautet: Sie schadet niemandem,
nutzt aber dem physischen und psychischen Wohlbefinden der Betroffenen, daher
ist sie nicht als verwerflich einzustufen.
Der Angelpunkt einer Ethik kann immer nur der oder die Nächste
sein: beeinträchtigt ihn oder sie eine Handlung oder aber nicht. Nach diesem
Prinzip ist alles erlaubt, sofern es keinen negativen Einfluss auf andere hat.
Das wäre die strikte Formulierung. Inwieweit die Forderung in jedem Fall so
strikt sein kann, ist zu diskutieren.
Zum Thema Homosexualität und Kirche meine ich, dass beide
Standpunkte unvereinbar sind. Wenn Homosexuelle Christen sein wollen, müssen
sie praktisch auf homosexuelle Betätigung verzichten. Eine unmenschliche
Forderung.
Ist den Homosexuellen aber die Liebesbeziehung zu einem
anderen Menschen – die sich immer auch körperlich ausdrückt – wichtiger, dann können
sie eben keine Christen sein. Dennoch ist festzuhalten, dass der Glaube (auch
nach der Bibel) eine freie Entscheidung darstellt, weshalb die Kirche oder die
Christen nicht das Recht haben, ihre Maßstäbe Nichtchristen aufzudrängen.
7.
Literatur
Al-Buhari, Sahih: Nachrichten von den Taten und Aussprüchen
des Propheten Muhammad. Übersetzt und Herausgegeben von Dieter Ferchl. 336.
Reclam, Ditzingen 1991.
Augustinus: De vera religione. Buch 1, Kapitel 11. In:
Walter Rüegg (Hg): Augustinus. Theologische Frühschriften. Artemis, Zürich
1962.
Bleinbteu-Ehrenberg, Gisela (1978): Homosexualität. Die
Geschichte eines Vorurteils. Fischer, Frankfurt 1978.
Dörner, Gunter; Schenk, B.; Schmiedel, B. & Ahrens, L.
(1983): Stressful events in prenatal life of bi- and homosexual men. Experimental and Clinical
Endocrinology 81 (1), 83-87. Endocrine Society, Washington 1983 (zitiert nach Sommer 1990a).
Evangelische Kirche im Rheinland (1992): Homosexuelle Liebe.
Arbeitspapier für rheinische Gemeinden und Kirchenkreise. Landeskirchenamt,
Düsseldorf 1992.
Henning, Max &
Schimmel, A. (1960): Der Koran. Reclam, Ditzingen 1960.
Hunt,
Morton (1974): Sexual Behaviour in the 1970s. Playboy Press, Chicago 1948
(zitiert nach Sommer 1990).
Kinsey,
Alfred C.; Pomeroy, W.B. & Martin, C.E. (1948): Sexual Behavior in the
Human Male. W.B.Saunders, Philadelphia 1948 (zitiert nach Sommer 1990a).
Kinsey,
Alfred C.; Pomeroy, W.B.; Martin, C.E. & Gebhard, P.H. (1949): Concepts of
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[*]
Homosexualität und Kirche (Verein) – in Österreich HuG (Homosexualität und
Glaube).
[†]
Die Zeit (online-Ausgabe der Verlagsgruppe) vom 29. Juli 2013 („Papst warnt vor
Diskriminierung Homosexueller“) und vom 19. September 2013 („Papst will weniger
über Homosexualität reden“).
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