Tuesday, April 18, 2006

tintenfischalarm















Ich hab mir im Geidorfkino den Dokumentarfilm tintenfischalarm über das Schicksal des geschlechtlich uneindeutigen Mannes Alex angesehen. Praktisch wurde er mit zwei Jahren kastriert. Schockierend! Es ist schrecklich, welche Gewalt Kindern mit unklar differenziertem Geschlecht angetan wird, nur damit sie in ein vorgegebenes Schema passen und um sie in eine eindeutige soziale Rolle zwängen zu können. Der Leidensdruck der aufgezwungenen Geschlechtsidentität ist offensichtlich um vieles größer als das Problem der Uneindeutigkeit. Zumindest hätten die Betroffenen dann noch etwas mitzureden und könnten eventuell selbst die Entscheidung für ein Geschlecht treffen. Es geht offenbar mehr um das Bedürfnis der Ärzte ihre Kunst zu beweisen als um das Wohl des Kindes... Was mir am Film weniger gefallen hat, ist, dass sich die Regisseuse Scharang selbst so in Szene setzt. Ansonsten ist die Dokumentation nur zu empfehlen.

Monday, April 17, 2006

o tempora, o mores!

Plötzlich werde ich damit überrrascht, dass mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ‚ist‘ und ,ist nicht‘ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ,sollte‘ und ,sollte nicht‘ sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von größter Wichtigkeit.
David Hume

Mit seinem neuen Buch „99 moralische Zwickmühlen“ ist dem australischen Philosophen und Pädagogen Martin Cohen nach seinen „99 philosophischen Rätseln“ wieder ein kleines Meisterstück gelungen. Mit über 99 Kurzgeschichten, zum Teil fiktiv, zum Teil mit realem Hintergrund, die alle eine ethische Fragestellung beinhalten, entführt uns der Autor in das unüberschaubare Universum der Moralphilosphie, wobei er es dem Leser selbst überlässt, Antworten zu finden. Erst im zweiten Teil kommentiert er jede einzelne Geschichte, indem er uns die verschiedenen Ansätze der großen Philosophen vorstellt oder die historischen Hintergründe eröffnet. So stellt er unter anderem folgende Fragen: Welche Bedeutung hat der lokale Brauch bei der moralischen Einschätzung einer Situation? Handelt der Mensch nur dann ethisch, wenn er gesehen wird, und pfeift er auf die Moral, wenn er sich unbeobachtet fühlt? Kann ein Täter zur Rechenschaft gezogen werden, wenn ein Psychologe die Unzurechenbarkeit zur Tatzeit adjustiert? Sind moralische Urteile prinzipiell situations- und zeitabhängig oder universell gültig? Soll die Ethik auf die gesamte belebte Natur ausgedehnt werden? Kann es einen gerechten Krieg oder ein gerechtfertigtes Töten geben? Heiligt der Zweck die Mittel? Inwieweit können die Sprachregelungen der Machthaber unseren Sinn für die Gerechtigkeit trüben? Können wir Situationen überhaupt neutral beurteilen? Kann es daher so etwas wie Gerechtigkeit geben? Und was ist Gerechtigkeit?
Neben den vielen Fallbeispielen aus der menschlichen Vergangenheit (bis hin zur Gegenwart) ist auch das anschließende Glossar positiv hervorzuheben, in dem er nochmals in prägnanter Kürze auf diverse moralphilosophische Begriffe und Autoren eingeht. Dort finden sich unter anderem auch Informationen zur islamischen Ethik, zur Sklaverei oder zur Umweltethik. Unter dem Stichwort „Lügen“ gelingt ihm der wichtige Nachweis, dass uns die postmoderne Philosophie in eine ethische Sackgasse führt, indem sie jeden Diskurs über Moral ad absurdum führt (wenn es kein Richtig oder Falsch gibt, kann es auch keine Ethik geben).
Zum Schluss möchte ich zwei der 99 Zwickmühlen herauspicken, um Geschmack auf das Buch zu machen:

• Die Schule des Terrors (79) diente im ausgehenden 20. Jahrhundert über 50 Jahre lang als staatlich finanzierte Ausbildungsstätte für Leute, die in der Folge mit der Organisation von Todesschwadronen, der Durchführung von Erpressungen, der Exekution von unliebsamen Personen und der Verbreitung von Angst und Schrecken in der Bevölkerung diverser Staaten beauftragt wurden. Ist eine Bombardierung der Schule oder ein Angriff auf das betreffende Land gerechtfertigt? Präsident Busch erklärte 2001: „Jeder Staat, der Verbrecher und Mörder unschuldiger Menschen unterstützt, wird selbst zum Verbrecher oder Mörder. Und das wird ihnen zum eigenen Verderben gereichen.“ Wie wahr. Nur, das Land, das diese Schule in Ford Benning betrieb, war leider die USA unter der Aufsicht des CIA...

• Ein Hundert-Seelen-Dorf (97) wird von sechs Weißen beherrscht, die alle Ressourcen für sich beanspruchen. Der Rest lebt mehr oder weniger im Elend. Falls es ein Aufbegehren gegen diese Ungerechtigkeit gibt, wird mit überlegener Waffengewalt der Status quo wieder hergestellt. Ist das ein gerechter Zustand? Wer würde ein solch miserabel geführtes Dorf wollen oder unterstützen? Doch irgendjemand hat diesen Zustand wohl tatsächlich gewollt, denn unsere Welt entspricht in etwa dieser Verfassung...
Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns
Aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann
Serie Piper, München & Zürich 2005

Friday, April 07, 2006

Ethnogenese Europas
















Über das Entstehen und Vergehen der neuen Völker im Frühmittelalter diskutierten unter der Leitung von Herwig Wolfram (Mitte) Gospod Stih, Herr Steinacher, Herr Diesenberger, Herr Reimitz und Herr Pohl im Wartingersaal des steirischen Landesarchivs. Das hochkarätige Symposion war ein voller Erfolg!

Monday, April 03, 2006

Im Irrgarten der Wissenschaft

Das Buch der verrückten Experimente vom Wissen-schafts-Journalisten Reto U. Schneider enthält nach eigenen Angaben die Abfallprodukte seiner journalistischen Arbeit. Doch für Abfall sind die teilweise sehr skurrilen Beiträge viel zu interessant und nicht immer ohne Belang. Zumindest spiegeln sie wider, womit sich Wissenschaft (nicht nur abseits vom Mainstream) im Laufe der Geschichte beschäftigt hat. Vieles erscheint uns heute unnötig, abwegig oder gar grausam. Doch die Experimentatoren nahmen ihre Versuche stets ernst. Ob es sich nun um Experimente mit Geköpften, Kopftransplantationen, Ausreißen von Schamhaaren, Spinnen unter Drogen, Verhalten am Pissoir, Sex im Kernspintomographen oder um das Wägen der Seele ging. Auch wenn viele der beschriebenen Versuche prima facie als verrückt erscheinen, sind ihre Ergebnisse doch manchmal recht erstaunlich und rechtfertigen a posteriori so manches Experiment, wenn von bewussten Betrügereien einmal abgesehen wird. Außerdem gilt ganz allgemein für die Wissenschaft: Auch ein gescheitertes Experiment ist ein wissenschaftliches Ergebnis! Eine Sackgasse fordert uns dazu auf, einen anderen Weg zu beschreiten. Ich möchte willkürlich einige Beispiele aus dem Buch herauszugreifen, die durchaus Sinn machten: Drei Experimente zeigten, dass es gewöhnlich eine gewaltige Diskrepanz zwischen geäußerter Meinung und konkretem Verhalten von Menschen gibt – Umfragen haben daher nur geringen Wert für die Verhaltenseinschätzung der Befragten. Besonders interessant war dabei das Beispiel mit den Moraltheologen auf dem Weg zu einem Ethikseminar, die an einem „Opfer“ achtlos vorbeigingen. Dazu passen natürlich auch die Experimente zur Gewaltbereitschaft des Menschen. Bekannt sind das Milgram-Experiment oder das Gefängnis-Experiment. Weniger bekannt ist vielleicht das Vandalen-Experiment, dass zeigt, dass auch brave Bürger leicht zum Vandalismus verführbar sind. Für mich besonders interessant war das Experiment mit der Dollar-Versteigerung: Es zeigt, dass Menschen, die sich – durch einen minimalen Gewinn gelockt – auf eine ausweglose Situation einlassen, nicht mehr aufhören können. Der einzige Weg aus dem Schlamassel herauszukommen scheint ihnen das weitermachen zu sein. Dass sie dabei nur immer tiefer in die Ausweglosigkeit hineintreiben, spielt keine Rolle mehr. Sie halten stur an der anfänglich gewählten Strategie fest. Viele Kriege laufen genau nach diesem Muster ab!
Trotz oder gerade wegen der Vielzahl an Skurrilitäten ist das Buch mehr als lesenswert. Und gerade deshalb ist es sehr anregend und fordert unseren Intellekt heraus. Es ist jedenfalls eine Gewinn bringende Lektüre!

Reto U. Schneider
Das Buch der verrückten Experimente
C. Bertelsmann Verlag, München 2004